Immer verlasse ich dich
zugestoßen?«
»Nein.«
»Gott sei Dank. Und dir geht’s auch
gut?«
Es entgeht mir nicht, daß sie sich erst
nach Kip erkundigt, dann nach mir. Allerdings tröstet mich, daß ja ich am
Telefon bin und nicht Kip, deshalb ist die Reihenfolge, in der sie sich Sorgen
macht, natürlich völlig logisch.
»Mir geht’s bestens. Es geht um Meg.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie wurde... wurde in ihrem Geschäft
ermordet.«
»O mein Gott«, sagt sie, als hätte ich
ihr ins Gesicht geschlagen, sie stößt die Worte richtig hervor. »Wann denn?«
Ich berichte ihr, was ich weiß. Sie
stellt immer wieder Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Es nützt nie etwas,
jemandem zu sagen, daß man ihm schon sämtliche Informationen gegeben hat, die
man überhaupt nur geben kann. Irgendwie glauben die Menschen es nicht, oder sie
denken, sie würden nach der einen Sache fragen, die man vergessen hat.
»Ich habe dir alles gesagt, was ich
weiß«, sage ich zum drittenmal.
»Bleib dran«, befiehlt sie.
Ich höre, wie sie den Telefonhörer
hinlegt, wie die Kühlschranktür aufgeht, und ich weiß genau, was sie macht. Sie
holt sich Eis. Sie ist sehr kultiviert, trinkt nie ohne. Ich bilde mir ein, daß
ich sie am Barschrank im Eßzimmer hören kann (was ich nicht kann). Was ich
allerdings tatsächlich höre, ist das Klappern ihrer Absätze, als sie geht und
wieder in die Küche kommt, ein Geräusch, wenn man etwas eingießt, das Klimpern
von Eiswürfeln.
»Da war jemand an der Tür«, lügt sie.
Ich habe gelernt, ihr nicht zu
widersprechen, das Trinken zu ignorieren, zu begreifen, daß ich nichts tun
kann. Doch ich habe auch gelernt, daß ich mich der Situation entziehen kann.
Ich will jetzt auflegen und sage es.
Meine Mutter schreit mich an: »Was ist
los mit dir, Lauren? Hast du überhaupt kein Herz? Kannst du dir gar nicht
vorstellen, was das für mich bedeutet?«
Ihr. Sie kommt nicht auf den Gedanken, daß Megs Tod irgendeine
Wirkung auf mich haben könnte oder daß die Tragödie in Wahrheit darin besteht,
daß Meg tot ist.
»Du bist so egoistisch«, brüllt sie
weiter. »Megan war wie eine zweite Tochter für mich und
sie wurde ermordet und du willst auflegen? Ich verstehe dich nicht.«
Nein, das tust du nicht, möchte ich am liebsten sagen. Du
verstehst niemanden, weil du so mit dir selbst beschäftigt bist. Aber ich sage
es nicht. Statt dessen bitte ich sie, mit dem Gebrüll aufzuhören.
Sie knallt den Hörer auf.
Zitternd lege ich meinen auf die Gabel.
Warum lasse ich mich so von ihr aufbringen? Ich wünschte, ich wäre wie Kip, die
nicht zuläßt, daß ihre Mutter sie in Wut bringt. Natürlich ist Carolyn auch
keine Trinkerin. Dennoch kann sie einem, wie alle Mütter, auch manchmal auf die
Nerven fallen, und Kip gelingt es, damit umzugehen, ohne die Fassung zu verlieren.
Sie war nicht immer so beherrscht, was ihre Mutter betrifft. Ich erinnere mich
noch an die Zeit, als sie nach einem Gespräch mit ihr immer eingeschnappt war
oder mit Gegenständen warf. Aber jetzt nicht mehr. Kip ist wohl doch reifer als
ich. Das hasse ich!
Das Telefon läutet. Ich bin sicher, daß
es meine Mutter ist, und nehme mir fest vor, mir Mühe zu geben. Immerhin ist
sie jetzt noch nicht betrunken. Doch als ich abnehme, höre ich die Stimme
meines Vaters:
»Das ist das Schlimmste, was ich je
erlebt habe«, erklärt er.
Was kann man zu solchen Menschen sagen?
Er stellt mir weitere Fragen, auf die
ich keine Antwort habe, dann sagt er:
»Lauren, ich möchte, daß du nach Hause
kommst.«
»Nach Hause?« Wird er endlich zugeben,
daß meine Mutter Alkoholprobleme hat?
»Das sage ich doch schon seit Jahren.
Dein Zimmer steht nach wie vor für dich bereit.«
Ich bin entsetzt, verstehe jetzt aber
zumindest. Das Urteil meines Vaters über die Welt lautet: Viel zu gefährlich.
In seiner Lebensauffassung ist kein Platz für Spaß oder Freude. Alles schwarz
in schwarz. Er bekam nicht nur einen Tobsuchtsanfall, als ich nach dem College
nach New York zog, er bekommt auch jedesmal fast einen Anfall, wenn die Sprache
auf meinen Beruf kommt. »Daddy«, sage ich, »ist dir eigentlich klar, daß ich
dreiundvierzig Jahre alt bin?« Warum nenne ich ihn dann eigentlich noch Daddy?
»Und wie alt war Meg?« kontert er.
Ich seufze. »Wo wird Kip schlafen?«
frage ich spöttisch. »In meinem Zimmer steht ein Einzelbett.«
»Wir beschaffen ein Doppelbett.«
»Verstehe. Also willst du, daß Kip und
ich unser Haus verkaufen und bei dir und Mutter in meinem
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