Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Todsünde in Potenz! Nun wird er nach seiner Ansicht wohl nicht mehr zu halten sein. Uns macht das alles große Sorgen, vor allem, weil wir so weit weg vom Schuß sind.«
Dann zogen die Eltern mit der Schwester mehrere Autostunden weit weg in eine Kleinstadt in der Lüneburger Heide, nach Dahlenburg.
Das war einer dieser Irrtümer kurz nach der Ausreise. Das Wohnen dort war billiger, redeten sie sich ein, denn sie rechneten noch um zum Kurs von eins zu sieben. Alles wurde mit sieben multipliziert. Achthundert D-Mark für Miete – mal sieben wären das fünftausendsechshundert Ost-Mark gewesen – standen gegen dreiundneunzig Mark für drei Zimmer mit Bad, Küche, Veranda und Blick auf Garten und Rotdornbaum.
Jetzt also ein Haus. Großer Garten voller Obst und Gemüse, wo im Sommer Waschschüsseln voll Erdbeeren gepflückt wurden. Für jeden ein Zimmer. Endlich wieder die eigenen Sachen. Aber die Möbel, die aus dem Umzugswagen gehoben wurden, wurden in Einzelteilen vor das Haus gelegt – Stuhlbeine wie abgesägt, der ramponierte Sekretär, der Nähtisch von Großmama gebrochen, die blauen Füße der Bauerntruhe im grünen Rasen. Wir fühlten uns selber wie zerlegt. Irgendwann kam ein Mann, der Tischler sein sollte, mit einem Traktor und lud alles auf den Anhänger, Abfahrt zur Reparatur auf dem Lande.
Zwei- bis dreimal in der Woche fuhr die Mutter nach Reinbek zum Rowohlt Verlag, wo sie arbeitete. Da die Aussicht bestand, dass Bettina Wegner aus der DDR die Einreise erlaubt wurde, um in West-Berlin im Rahmen der Literaturtage, die im Künstlerhaus Bethanien stattfanden, aufzutreten, machte sie eine Dienstreise.
Die Mutter erzählt: »Ich fuhr dorthin, um mir die Lyriker anzuhören. Ich wohnte bei einem Freund, einem in der DDR akkreditierten Korrespondenten des ZDF. Dort kam mir die Idee, die Einreise zu probieren. Eine aufsteigende Idee, hätte Großmama gesagt.«
Der Freund nahm sie in seinem Pkw mit, über die GÜSt. Heinrich-Heine-Straße. Die Kontrolle dauerte nur circa sechs Minuten. Die Mutter reiste ohne Rückfrage ein. Ein Versehen? Eine Panne der Grenzbeamten?
Ich lese:
»Fahndungsergebnis zum Fahndungsobjekt Nr.: 320-469 – zum Vergleich
Name: Schädlich Vorname: Krista-Maria geb.: 18.02.44
Das F.-Objekt erschien am 21.06.78 zur Ein-/ Durch reise
Das F.-Objekt wurde nach Entscheid der Leitstelle nicht zurückgewiesen.
Sch. war in Begleitung des F.-Objektes 500208. Als das F.-Objekt die Pässe wieder in Empfang nahm, fasste es die Sch. um und sagte zu ihr in fröhlichem Ton: ›Siehst Du, es hat doch geklappt!‹«
Nun stand die Mutter mitten in der anderen Hälfte der Stadt. Telefonzelle suchen. Anrufen. Nein, doch lieber in das Hotel Unter den Linden gehen. Von dort ist das Telefonieren einfacher. Hektisches Wählen verschiedener Nummern. Sie in der Hauptstadt und nirgendwo irgend jemand da. Anruf bei der Schwester des Vaters. Endlich jemand zu erreichen, es ist schon später Nachmittag. Als der Onkel wenig später bei der Schwester anruft, teilt sie ihm mit, dass die Frau des Bruders in der Stadt sei, dass man sich treffen wolle. Sie werde die Frau des Bruders im Hotel Unter den Linden abholen, dann wollten sie zusammen zu ihm fahren. In seiner Wohnung wolle man sich treffen. Es gebe so viel zu erzählen, sie sei ganz aufgeregt, dass das geklappt habe. Mensch, das sei doch wirklich ein Ding, dass sie einfach so durchgekommen sei. Wirklich schade, dass sie allein sei, ohne den Bruder. Aber sie habe es ja nicht wissen können.
Der Onkel sagte, ja.
Major Salatzki, der Führungsoffizier des Onkels, fasste in einem Bericht vom 26. Juli 1978 zusammen: »Betrifft den Besuch vom 21.6.78: Die Schwägerin des IM erschien gegen 19.00 Uhr in der Wohnung des IM zusammen mit der Schwester des IM. Weiter erschien der Neffe des IM, […] und eine Frau […] mit ihrem Mann. Die vorgenannten Personen waren von der Schwägerin des IM vom Hotel ›Unter den Linden‹ aus angerufen worden, wo diese nach der Einreise in die Hauptstadt der DDR sich mehrere Stunden lang aufgehalten hatte.«
Ich kann mir vorstellen, wie sie da saßen, in der kleinen Bude, in dem Wohnklo, wie der Onkel seine Wohnung immer nannte, gedrängt in dem einen Zimmer, in dem auch sein Bett stand und der Schreibtisch, rauchend, trinkend, redend.
Ich lese weiter:
»Im Mittelpunkt des Gesprächs an diesem Abend in der Wohnung des IM standen die Ausführungen der Schwägerin des IM über die Lage der Familie seines Bruders in der
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