Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
fühlte mich als Halbmensch. Die eine Hälfte war in der DDR, die andere in der Bundesrepublik. Darüber redete ich nicht. Niemand redete darüber. Es war ein Kampf gegen die Sehnsucht nach dem vertrauten Leben, nach dem Einfach-mal-rum-Kommen, nach dem Klingeln nur so an der Tür, nach dem Blick in den Kühlschrank, ob man aus Resten noch ein Essen kochen konnte, nach unangemeldeten Besuchen. Wie oft musste ich mit der Mutter in Köpenick in der kleinen Küche stehen und schnell beim Broteschmieren oder Kartoffelschälen helfen. Hier musste man angemeldet sein, pünktlich erscheinen, nicht zu früh, nicht zu spät, entsprechend angezogen. Fast nie privat, sondern in Restaurants, und man wusste nicht zu bestellen, weil man die Gerichte nicht kannte.
Gleich im Frühjahr, zu Ostern, machten der Vater und ich eine Reise nach Polen, den Onkel wiederzusehen, den Bruder.
Vorher Telefonate mit dem Onkel.
Der Vater: Ich wollte mich noch mal bei dir melden und dir noch einmal sagen, dass wir am Freitag um 15 Uhr landen. Leider sind wir an ein bestimmtes Hotel gebunden.
Der Onkel: Wir holen euch auf jeden Fall vom Flugplatz ab. Wir wissen allerdings noch nicht, wo wir übernachten werden, das ist auch eine Frage des Geldes. Du hast ja gesagt, du würdest einen Hunderter schmeißen, das ist für Warschau eine ungeheure Summe.
Der Vater: Ich bezahle für eine Nacht in dem Hotel hundertfünfzig D-Mark.
Der Onkel: Das kann nicht sein, das ist ja mehr, als bei der Interconti-Kette in Westeuropa geläufig ist. Ich werde versuchen, dass wir im Forum unterkommen. Für deinen Hunderter können wir dort drei Tage bleiben. Soll ich dir was mitbringen?
Der Vater: Nein, das brauchst du nicht. Soll ich dir etwas mitbringen?
Der Onkel: Nein, ich habe gerade keine Wünsche. Ich sage dir, in Warschau kannst du in den Genex-Kaufhäusern für deine Westmark billiger kaufen als in Hamburg. Du kriegst eine Flasche polnischen Whiskey für siebzig Cents.
Der Vater: Ich hoffe wirklich, dass es schöne Stunden des Wiedersehens werden.
Der Onkel: Ja, das hoffe ich auch.
Ich lese:
»Der IM wurde von seinem Neffen, Jan, gebeten, zu Ostern mit ihm nach Prag bzw. Warschau zu reisen, um sich dort mit Hans-Joachim Schädlich zu treffen. Der IM äußerte Unlust zu einer Fahrt nach Warschau, da er für die Ostertage anderes vorhätte. Er wäre aber bereit, die Verbindung mit seinem Bruder zum Zwecke der Informationsabschöpfung und Einflußnahme in Prag oder Warschau aufzunehmen.«
Die erste Reise allein mit dem Vater und meine erste in einem Flugzeug. Mutter und Schwester waren nicht mitgekommen. Die Schwester, weil sie zu klein war, die Mutter, weil sie die Abschiedswiederholung fürchtete.
Es war ein unruhiger Flug. Nicht nur des Wetters wegen.
In Warschau saßen wir zusammen. Stundenlang im Hotelzimmer. Es war ein Familientreffen als Urlaub nach vier Monaten Westen. Es gab viel zu erzählen. In Warschau lachten wir. Es gab viel zu lachen. Dem Bruder hatte ich eine Langspielplatte von Cat Stevens mitgebracht, und die wollte er hören. Im Hotel, in dem der Vater und ich wohnten, in dem nur Westler wohnen durften, und wir dachten, jetzt ist alles möglich, riefen wir bei der Rezeption an. Baten, halb englisch, halb polnisch, um einen Plattenspieler. Als es klopfte, stand ein Angestellter des Hotels mit einem Strommessgerät vor der Tür.
In Warschau gab es viel zu sehen. Wir schlenderten durch das, was einmal das Jüdische Ghetto gewesen war. Ich suchte die Häuser, die einmal gestanden hatten. Ich suchte eine Gedenktafel, die ich nicht fand. Ich dachte, die Erinnerung ist kurz. Wir tauschten Zloty gegen D-Mark auf der Straße. Der Onkel wusste, wie. Wir bekamen einen guten Kurs. Wir aßen gegen Devisen in teuren Hotels Fleisch. In den Fleischereien dagegen weißgeflieste Leere, Farbtupfer nur durch eine Wurst im Schaufenster. In Warschau alberten wir darüber hinweg.
Zurück in Hamburg verfiel der Vater manchmal schon in Schweigen, während draußen die Dampframme hämmerte.
Die Mutter schrieb in einem Brief an die beste Freundin: »Wir versuchen noch immer etwas verzweifelt mit dem hiesigen Leben zurechtzukommen. Es ist schwieriger, als wir dachten, und manchmal waren wir auch schon recht mutlos. Dann sind solche Informationen, wie z.B. die über Karlheinz von Wichtigkeit, die einen die DDR doch wieder ins rechte Licht rücken. Der Arme hat viel auszuhalten. Es ist ruchbar geworden, daß er sich mit Jochen in Warschau getroffen hat.
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