Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Verfassungsschutz. »Sehr geehrte Damen und Herren …« Ich beschrieb, was vorgefallen war. Ich beschrieb, wo ich gewesen war. Ich bekam eine Einladung zu einem Gespräch. Wieder ein Haus, wieder ein Pförtner. Wieder Flure und Türen. Wieder ein Zimmer. Tür mit Klinke. Keine vergitterten Fenster. Lange Tische, viele Stühle. Zwei Männer. Einer, der mich befragte, einer der stenographierte. Ich stand Rede und Antwort. Ich sah Fotos vom Haus in Pankow, von dem freundlichen Mann. Ja, dort war ich, ja, das war er. Ich wurde verabschiedet.
Die Augen waren mir in dem Haus in Pankow in letzter Sekunde aufgegangen. Als ich die Fotos vor mir auf dem Tisch liegen sah, wurden sie immer größer. Ein Licht ging uns allen nicht auf.
Vielleicht hätten wir dann damals schon eins und eins zusammengezählt. Vielleicht wären wir dann 1992 nicht mehr so entsetzt gewesen.
Ich schrieb mir mit dem Onkel Briefe.
Im Februar 1988, da war ich schon in Amerika, er an mich: »Ich war vor kurzem für zwölf Tage in der Bundesrepublik. Fünf davon verbrachte ich in Düsseldorf. Vorher war ich in Bremen, danach ein langes Wochenende in der Nähe von Köln.« Auch 1987 war er gereist. Zum Vater. Ich lese weiter: »Im Oktober hatte man mich für eine knappe Woche tatsächlich zu Deines Vaters Geburtstag reisen lassen (= vier S-Bahn-Minuten). Mit ihm flog ich auch nach Frankfurt (Buchmesse). Was könnte ich von diesen Reisen sagen? Daß es kuschelig war. Daß ich und andere, die mich seit langem kennen (so etwa Jochen), an mir eine ausgeprägte, entspannte und gelassene Ruhe registrierten, anders als während meiner ersten Reise vor einem Jahr. Darüber muss ich noch nachdenken.«
Ich nicht. Ich möchte nicht wissen, bei wem und wann er in all den Jahren noch überall im Westen war und vor allem, mit welchen Aufträgen. Die Mutter hat den Onkel regelmäßig in Düsseldorf empfangen. Er wohnte bei ihr. Hatte ja kein Geld für ein Hotel. Sie fragte sich nicht, warum er reisen durfte, weil Ende der achtziger Jahre die DDR-Behörden den Katalog der Reiseerlaubnisse erweitert hatten. Den Ostbehörden reichte zuweilen schon eine Familienfeierlichkeit wie der soundsovielte Geburtstag eines Schwagers oder einer Tante. Das gab der Onkel vor. Über die Mutter hatte er Zutritt zum Verlag, er saß mit allen zusammen, wurde auf Feste eingeladen, manche machte man seinetwegen, er war ein gerngesehener Gast. Er hörte interessiert zu, schwieg viel und erzählte von Unity Mitford, einer britischen Schönheit, die sich in Hitler verliebt hatte und sich aus Kummer im Englischen Garten eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Sie überlebte als Pflegefall. Er, der Historiker in Harris Tweed und mit Pfeife, mit einer Vorliebe für britische Skandalgeschichten, erzählte so, dass ihm die Veröffentlichung eines Buches angetragen wurde. Das Buch erschien 1990 unter dem Titel Die Mitford-Sisters. Das war seine Legende dann. Er brauchte sie nicht einmal zu erfinden, denn Historiker war er, und das Buch schrieb er schließlich auch.
Mehr werde ich nicht herausfinden, jedenfalls nicht aus den Akten. Ich möchte auch nicht mehr wissen. Ich weiß genug.
Unsere Akten enden 1984. Die Berichte in den Akten des Onkels enden 1983. Nur noch ein paar spärliche Seiten. Berichte über Ungarn. In das westliche Ausland reiste er weiter. Salatzki, der 1983 den Vorgang IM »Schäfer« an Oberstleutnant Horst Kuschel übergeben hatte, behielt ihn bis zu seiner Pensionierung 1986 in seiner Abteilung, lieh ihn nicht aus. Erst 1989 wurde der Onkel »entpflichtet«. Im Dezember! Unter der Rubrik »Einschätzung der Zusammenarbeit« lese ich: »Offene, ehrliche Zusammenarbeit. Abbruch der Verbindung wegen Perspektivlosigkeit bei Umstrukturierung.«
Es gibt Einschnitte im Leben, die alles verändern, die einen selber verändern. Der erste Einschnitt in meinem Leben war die Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik. Was folgte, hätte keiner von uns auch nur im entferntesten vorhersehen können. Im Gegenteil, wir hatten es uns anders vorgestellt, heiler, soweit man sich überhaupt eine Vorstellung von dem machen kann, das man nicht kennt. Man macht sich also Bilder, die geprägt sind von Informationen. Diese entsprechen in den seltensten Fällen der Wirklichkeit. Mit Vergangenem ist es ähnlich, die Bilder werden verfälscht von der Sehnsucht danach. Auch diese Bilder entsprechen nicht der Wirklichkeit. Es ist, wie wenn zwei Lichtquellen Schatten werfen. Die eine Lichtquelle
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