Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Perspektivlosigkeit greift um sich. Unsereiner kann gar nicht so viel verdienen, wie es notwendig wäre, um Kindern einen Start zu geben.« Das waren meine Gedanken nicht. Mich umwehte Theaterluft, das tägliche Proben, die Entwicklung des Bühnenbildes, Kostümentwürfe, die Rückschläge, die Nähe der Premiere, Pausen in der Kantine im großen Haus, die Allüren der Schauspieler und Regisseure, das ganze Treiben. Ich durfte dabeisein in dieser mir gänzlich neuen Welt. Und das Allerbeste, ich wohnte bei der Mutter und der Schwester.
Die Hospitanz wurde verlängert, zwischendurch war ich in Berlin und suchte weiter nach einer Lehrstelle. Abends war ich wieder in Schöneberg. Mit der neuen Freundin aus Düsseldorf, sie groß und mit schwarzem Haar, ich klein und blond, zog ich nachts um die Häuser »Mal sehen, was im Dschungel läuft«, der Berliner In-Disco, in die nicht jeder kam, vor allem keine Touristen, manchmal aber solche wie David Bowie. Danach ins Domina, eine Schwulen- und Transvestitenkneipe, in der erst nach 4 Uhr morgens das Leben wirklich losging, in der die Diven zu Yma Sumac auf dem Tresen tanzten und mir eine vollbusige Schöne mit übertrieben weiblicher Geste eine Rose schenkte. Oder ins Risiko unter den Yorkbrücken, wo vielleicht wieder eine Performance mit rohem Fisch stattfand und am Tresen Blixa Bargeld Nachtgedanken nachsann. Ich ließ mich herumführen, ich staunte, ließ mich auf andere Gedanken bringen, aber nicht ab vom Wege. Das tat der Onkel nach der zweiten Hospitanz am Theater in Düsseldorf.
Wir sprachen am Telefon, wir schrieben uns Briefe. Wir verabredeten uns. Ich war froh, wenn er Zeit hatte, Besuche in Ost-Berlin trösteten mich über die Ungewissheit meiner Zukunft hinweg. Café Moskau, die Espresso-Bar, seine Wohnung. Seine Wege wurden meine Wege. Und außerdem, es war immer noch auch meine Stadt. Er wusste, dass ich Kostümbildnerin werden und dafür endlich schneidern lernen wollte. Dass ich immer noch keine Lehrstelle gefunden hatte in West-Berlin. Dass ich ihn vermisste, und all die anderen auch. Dass ich hin- und hergerissen war.
Er sagte: »Lies Der geteilte Himmel «, und gab mir das Buch mit. Während ich das Buch las, gab es Gespräche, über Manfred, über Rita, über das Weggehen aus der DDR und das Wiederzurückkommen. Als ich zu Ende gelesen hatte, sagte ich zum Onkel: »Mir geht es wie Rita.«
Er sagte: »Ja. Ich verstehe dich. Aber so einfach ist das nicht.«
Ich bat ihn um Rat. Er sagte, er müsse darüber nachdenken.
Als er nachgedacht hatte, sagte er: »Vielleicht könntest du einen Brief an den Oberbürgermeister von Ost-Berlin schreiben? In Prag kann man schließlich auch gegen Devisen studieren.«
Ich dachte, warum eigentlich nicht.
Er sagte: »Behalt es erst einmal für dich, musst nicht gleich mit den Eltern darüber reden.«
Ich erzählte es einem Freund. Der sagte: »Ich weiß nicht.«
Am 5. Mai 1985 schrieb ich an den Oberbürgermeister von Ost-Berlin einen Brief, den ich in den Akten finde. Nach kurzer Vorstellung meiner Person und der Feststellung, dass die Schneiderinnen-Lehrstellen als Voraussetzung für den Beruf der Kostümschneiderin in der Bundesrepublik und West-Berlin knapp seien, fragte ich: »Daher bitte ich Sie um Auskunft darüber, ob für mich die Möglichkeit einer Ausbildung in diesem Bereich der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik besteht.« Eingeladen wurde ich einige Wochen später – zu einem Gespräch.
Ich rief den Onkel an. »Stell dir vor, ich habe eine Antwort bekommen.«
Er sagte: »Na siehst du? Es geht«, und wünschte mir viel Glück.
Zum ersten Treffen fuhr ich mit der U-Bahn durch die Bahnhöfe, an denen nie ein Zug hielt, bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße. Der Onkel holte mich auf der anderen Seite ab, wie gewohnt.
»Ich bringe dich noch ein Stück, habe auf dem Stadtplan nachgesehen. Ist nicht weit.«
Er brachte mich zur Straßenbahn, nannte mir die Haltestelle, an der ich aussteigen sollte, beschrieb mir den Weg.
Ich kam zu einem Haus, wie ein Einfamilienhaus, unscheinbar in ruhiger Lage. Ich klingelte. Drinnen eine Art Pförtnerzimmer, hinter Glas ein rauchender Mann. Angemeldet war ich. Der Mann schickte mich einsilbig in einen Raum gegenüber. Dort hatte ich zu warten. Holztisch, Holzstühle, verraucht.
Nach einer Weile Führung durch einen Flur bis zu einer Tür. Der Pförtner, der nicht nur Pförtner war, öffnete sie.
»Bitte. Es wird gleich jemand kommen.« Die Tür
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