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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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war der Westen. Dort lebte ich, dort hatte ich Freunde, ich kannte die Nachtszene, ich hatte mich politisch engagiert und schließlich sogar, trotz aller Ablenkungen, das Abitur geschafft. Die andere Lichtquelle war der Osten, in den ich, anders als die Mutter und der Vater, bis zu jenem Tag jederzeit fahren konnte. Ich hatte das Gefühl, privilegiert zu sein. Ich dachte, dem Schicksal ein Schnippchen schlagen zu können. Hier zu sein und dort. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
    Als mir die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, sollte das eine Strafe sein, sie wollten mich treffen, und das taten sie, aber im Grunde erwiesen sie mir einen Dienst. Als die Tür zugeschlagen war, musste ich mir endlich eingestehen, dass ich in dem gespaltenen Land selber gespalten war, dass ich beides hatte haben wollen. Beinahe zu spät bemerkte ich, dass nur eines möglich war. Ich musste mir eingestehen, dass ich das Leben keineswegs meisterte. Nach der Traurigkeit, nach dem Schrecken die Erkenntnis: Es gab keine Wahl, jedenfalls nicht zwischen Ost und West.
    Jetzt stand ich an einer Gabelung, und ich denke an ein Gedicht von Robert Frost, das ich zum ersten Mal in Amerika las und das mich seither begleitet: »Two roads diverged in a yellow wood, And sorry I could not travel both.« Der Reisende entschließt sich für einen Weg, hebt sich den anderen auf für einen anderen Tag, wohl wissend, dass er nicht zurückkommen wird. »And that has made all the difference.«
    Jetzt beschloss ich, ich musste weg. Nur so würde ich ankommen. Es durfte nur eine Lichtquelle geben, nur einen Schatten, keine Halbschatten. Dann wäre ich auch bei mir.

    In Düsseldorf gab es eine Schule, an der man schneidern lernen konnte. Ich bewarb mich und wurde angenommen. Nun doch. Verbissen verbiss ich mich. Übte die verschiedenen Nahtarten, lernte, dass es außer Binsen noch Biesen gab, entwarf, machte Schnittmuster, nähte sogar einen Rock. Das war der praktische Unterricht. Im theoretischen musste ich feststellen, dass die Grenzen Deutschlands noch die von vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Auf meinen Hinweis kam von der Lehrerin die Bemerkung, die Jahreszahl sei doch nicht so wichtig. In Deutsch wurden die Grundregeln der Orthographie vermittelt, in Mathematik das Einmaleins. Das war nicht meine Welt. Und vor allem war es nichts für meine Augen. Einfädeln, Falte auf Falte bügeln, parallele Nähte, Biesen über Biesen, jede anders als die vorherige und kein Knopfloch gleich. Ich gab mein Bestes, das der Lehrerin nie gut genug war. Trotzdem machte ich weiter. Ich war es mir schuldig, ich wollte es mir zeigen. Dazu gehörte auch, dass ich eine Wohnung suchte und bezog. Dazu gehörte auch die Freundin, der ich Berlin gezeigt hatte und die mir jetzt Düsseldorf zeigte, besonders in der Nacht. Der gute alte Ratinger Hof. Manchmal sollte ich, ganz wie früher, auf die Schwester aufpassen, wenn die Mutter abends zu tun hatte. Nur, jetzt wollte ich mit der Freundin ausgehen. Nicht Babysitten. Wir schminkten die Schwester von elf auf sechzehn und nahmen sie mit, damit sie uns nicht verrate.
    Ich könnte sagen, das Leben war normal für ein Mädchen in dem Alter. Ich könnte sagen, ich hätte froh sein können, dass es so war. Das sage ich auch. Doch auch wenn das Leben normal verlief, ich froh sein konnte, spürte ich, dass Düsseldorf nicht der Ort war, an dem ich wollte, dass das Leben normal verlief. Froh wollte ich anderswo werden. Wo das sein würde, wusste ich, nachdem ich einen Film gesehen hatte, der mich in Schwarzweißbildern nach Louisiana führte, vorbei an Häusern und in die Tristesse der leeren Straßen, durch einsame Sümpfe. Ich sah drei Einzelgänger, die sich durch das Leben schmuggeln, deren Weg vom Zufall bestimmt ist, die sich bestimmen lassen. Am Ende bleibt einer der drei bei einer Frau, die beiden anderen gehen eine Straße entlang bis zu einer Weggabelung. Der eine geht den einen Weg, der andere den anderen: That has made all the difference. Für mich. Plötzlich wusste ich, ich musste einen anderen Weg gehen als den deutschen. Vor allem musste ich ihn allein gehen, weit weg, auch weg von der Familie.
    Es bedurfte einiger Vorbereitung, das war klar. Neben der Schneiderschule fing ich an zu jobben. Bei der Post. Ich wurde vereidigt, zusammen mit den anderen Hilfskräften für die Nacht, und wir luden Pakete in Regale, schoben Kästen mit Briefen herum, ordneten vor für die Frauen, die auf Drehstühlen hinter kleinen Regalen saßen und die

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