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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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Briefe nach Straßen sortierten. Eine illustre nächtliche Runde, vor allem in den Pausen. Hartgesottene und doch weichherzige Arbeiterinnen, mit einem drastischen Humor, wir die junge Brut, die es zu beschützen galt, vor allem vor dem stets betrunkenen »Vorsteher«, der aufpasste, dass alles seine Ordnung hatte und jede ihrer Arbeit nachging. Wir ließen uns noch einschüchtern. Die Frauen nicht. Am schönsten waren die Momente, wenn die Postkarten vorgelesen wurden. So viel Zeit musste sein, Nacht für Nacht, bevor sie in Straßennamenfächern verschwanden.
    Morgens halb fünf, nach Schichtende, fuhr ich vom Hauptbahnhof nach Hause, im Hof roch es schon nach frischen Brötchen aus der Backstube im Hinterhaus. Jeden Morgen bekam ich welche warm aus dem Ofen. Schnell Kaffee getrunken, Brötchen gegessen und in die Schule. Die Nähte wurden immer krummer, die Biesen wurden Binsen, und ich gab die Schule auf. Ob ich der Mutter davon erzählte? Ich weiß es nicht mehr. Ich suchte noch eine Arbeit und wurde Köchin. Da war der Job bei der Post schon vorbei. Ob ich kochen könne, wurde ich gefragt. Ich sagte, ich koche gerne. Das reichte. Ich fragte mich nicht, ob ich es schaffen würde. Ich schaffte es. Hatte schon anderes geschafft. Ich stand drei- bis viermal die Woche in der Küche. Meistens war mir übel, denn jedes Gericht musste ich kosten. Jägermeister half, und dann kam es vor, dass ich ein Gericht versalzte. Als ich kündigte, sagte die Besitzerin, so eine Köchin fände sie nie wieder. Es war eine gute Zeit. Ich verdiente viel. Es gab nicht selten Tage, an denen ich über siebzig Gerichte zubereiten musste, pro Gericht fünfzig Pfennig, plus Stundenlohn, plus einen Anteil vom Trinkgeld. Ich sparte jeden Pfennig, verkaufte auf dem Flohmarkt, was ich im Keller der Mutter fand, Carrera-Bahn, Playmobil, Barbiepuppen, Barbiepferde, sogar ein Barbiehaus. Das bekomme ich heute noch zu hören!
    Im Geldbeschaffen war ich erfinderisch, und von Anstrengung war gar keine Rede. Eher davon, dass man ein Visum brauchte, Flüge gebucht werden mussten. Dass man es den Eltern sagen musste. Eine Freundin, die denselben Plan hatte, stärkte mir den Rücken. Und dann erfuhr es auch die Mutter. Ich war noch keine zweiundzwanzig Jahre alt, als ich ihr am Telefon sagte: »Komm, ich muss dir etwas sagen.«
    Als sie kam, sagte ich: »Bitte setz dich. Ich muss dir etwas sagen.«
    Als sie saß, sagte ich: »Ich gehe nach Amerika.«
    Sie sagte: »Jetzt bist du vollkommen verrückt geworden«, und ging ohne ein weiteres Wort. Später rief sie an und sagte: »Wenn du mir einen vernünftigen Grund nennst, warum du nach Amerika gehen willst, werde ich dir keine Steine in den Weg legen.«
    Ich sagte: »Nach zweimal Deutschland, zwölf Jahren DDR, zehn Jahren Bundesrepublik, muss ich weg, um endlich anzukommen. Wenn ich hierbleibe, wird das nichts.«
    Sie sagte: »Ich werde dir keine Steine in den Weg legen.«
    Erst dann beantragten die Freundin und ich Visa. Wochen vergingen, in denen ich bangte. Ich ahnte schon, was kommen würde. Und so geschah es. Der Freundin wurde das Visum erteilt, mir nicht. Weil ich aus der DDR kam, weil einige Fragen zu klären wären. Ich musste nach Frankfurt reisen, zum Generalkonsulat der USA.
    Warten vor einem Schalter aus Panzerglas. Es waren nicht viele Leute dort. Der Mann hinter der Scheibe bat mich vorzutreten: »Next, please.«
    »Ich möchte mein Visum abholen.«
    »Passport.«
    Ich reichte ihm meinen Pass. Er blätterte. Er blickte auf. Er lächelte.
    »Have you ever been a member of a communist organisation?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Have you ever been a member of the communist party?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Have you ever been …« Ich konnte nicht erklären, dass ich in der DDR zu jung war, um Mitglied in der Kommunistischen Partei gewesen zu sein, dass ich zu jung war, um in der FDJ gewesen zu sein, dazu reichte mein Englisch nicht, und der Mann, der mich fragte, sprach nur gebrochen Deutsch. Dass ich Thälmannpionier gewesen war, verschwieg ich. Der Mann lächelte freundlich, die ganze Zeit, während er mit ruhiger Stimme fragte. Und plötzlich sprudelte es aus mir heraus: »Ich war nie Mitglied einer kommunistischen Organisation.« Ich sagte es vier- oder fünfmal. Der Mann lächelte, der Mann sagte: »It’s alright.« Und stellte das Visum aus.
    Im Sommer ging es los. Zuerst mit dem Zug nach Frankfurt. Ankunft in der Nacht. Warten am Bahnhof, bis die erste S-Bahn zum Flughafen

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