Immorality Engine
sie es
höchstwahrscheinlich nicht tun würde. Dennoch blieb eine Frage offen. Sollte
sie Newbury gegenüber die Angelegenheit zur Sprache bringen und selbst versuchen,
dem Verfall Einhalt zu gebieten?
Am Ende wurde ihr die Entscheidung abgenommen, als sie ein höfliches
Hüsteln hörte. Newbury stand in der Tür. Er trug einen eleganten schwarzen
Anzug und lächelte. Die Haare hatte er sich glatt zurückgekämmt. »Wie ich sehe,
haben Sie Angus gefunden.« Die Stimme verriet wieder jenes Selbstvertrauen, das
sie vermisst hatte, seit sie ihn am Morgen aus dem Johnny
Changâs gezerrt hatten.
»Seien Sie nicht so makaber«, schalt sie ihn.
»Sie sind diejenige, die ein Leichenteil in der Hand hält«,
erwiderte er lachend.
Hastig legte sie das Objekt auf den Tisch zurück. »Was ist das, und
wozu dient es?«
Newbury durchquerte den Raum und hockte sich neben ihr auf die
Stuhllehne. Auf einmal war er ganz ernst, und die gerade wiedergewonnene
Leichtigkeit war dahin. Er suchte ihren Blick, als wartete er auf ein Zeichen
von ihr. »Ich habe den Eindruck, dass etwas
Schreckliches geschehen wird, Veronica. Das da«, er deutete auf die
mumifizierte Hand auf dem Beistelltisch, »dieses Experiment war ein Versuch, irgendeinen tieferen Sinn zu finden und meine instinktiven
Eindrücke zu einer brauchbaren Idee zu verdichten.«
Veronica runzelte die Stirn und wog die nächsten Worte sorgfältig
ab. »Verzeihen Sie, Sir Maurice, wenn ich offen sprecheâ⦠aber könnte es nicht
einfach die Folge des chinesischen Krauts sein? Lebhafte Träume,
Halluzinationen und so weiter? Sie müssen doch zugeben, dass Sie in der letzten
Zeit nicht mehr ganz der Alte waren. Könnte es nicht sein, dass die Droge eine
Art paranoide Täuschung ausgelöst hat?«
Newbury schnitt eine schmerzliche Grimasse. »Ganz im Gegenteil, meine liebe Veronica. Ich glaube, das Kraut hat
mir geholfen, ein gewisses Maà an Klarheit zu bewahren. Die Verbindung zwischen
dieser und der übernatürlichen Welt ist flüchtig, und manchmal habe ich unter
dem Einfluss der Droge das Gefühl, dass sich der Schleier ein wenig lüftet. Ich
sehe dannââ¦âandere Dinge und erhasche Einblicke in die Welt der Geister oder in
Zukunft und Vergangenheit. Es ist verlockend wie der Gesang einer Sirene. Das
Kraut ist das Medium dafür, nichts weiter.«
»Hat Ihr Experiment denn funktioniert? Sind Sie zu irgendwelchen Schlussfolgerungen gelangt?« Veronica wusste
nicht, was sie davon halten sollte. Jedenfalls konnte sie seine Worte nicht
einfach als Unsinn abtun. Immerhin hatte sie eine hellsichtige Schwester, die
in einer Anstalt saà und während ihrer Anfälle Visionen zukünftiger Ereignisse
empfing. Auch hatte sie gegen Newburys Vorgänger Aubrey Knox gekämpft, den
abtrünnigen Agenten, der sich völlig dem Okkultismus verschrieben hatte und
davon besessen gewesen war, mit uralten Methoden Macht zu gewinnen.
Die Queen hätte Veronica nicht
darauf angesetzt, Newburys Experimente mit den dunklen Künsten zu
überwachen, wenn es nicht Anhaltspunkte dafür gegeben hätte, dass man durch
deren Nutzung reale Macht gewinnen konnte.
Das Lied einer Sirene, wie Newbury es ausgedrückt hatte, lockte ihn zu
den tödlichen Klippen, die ihm die Erleuchtung zu verheiÃen schienen. Genau das
fürchtete die Königin.
Aber das hier? Es klang eher nach der Verblendung eines Mannes, der
sich hemmungslos den Trugbildern des Mohnsamens hingegeben hatte.
Als hätte er ihre Gedanken belauscht, legte Newbury ihr eine Hand auf den Arm. »Die einzige Schlussfolgerung,
die ich ziehen konnte, war die, dass wir Ihrer Schwester im Grayling Institute
einen Besuch abstatten müssen. Wahrscheinlich ist sie der einzige Mensch, der
etwas Licht auf die Angelegenheit werfen kann â die einzige Person, die
mir sagen kann, ob ich den Verstand verliere oder ob uns wirklich etwas
Schreckliches bevorsteht.« Er lächelte sie an. »Immer vorausgesetzt natürlich,
Sie haben keine Einwände.«
Veronica verkrampfte sich. Damit hatte sie nicht gerechnet. Natürlich hatte sie groÃes Vertrauen zu Newbury,
aber Amelia war krank, schrecklich krank, und Dr. Fabian hatte darauf
bestanden, dass Veronica sie nicht besuchen dürfe. Noch mehr als das, er hatte
sogar verlangt, sie dürfe sich ihrer Schwester auf keinen Fall nähern,
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