Immorality Engine

gefährlicher, als
sie es sich jemals ausgemalt hatten.
    Â»Warum?« Sie drehte sich zu Newbury herum, der immer noch zwischen
den aufgehängten Toten umherlief. »Was wollen sie damit erreichen? Wenn sie
ihre Feinde ermorden wollen, wäre es doch besser, wenn sie die Toten heimlich
beseitigen, statt sie hier aufzuhängen, wo sie leicht zu entdecken sind.«
    Â»Ich glaube, genau das ist der springende Punkt«, antwortete Newbury
geheimnisvoll. Er drehte einen Toten am Haken herum und bückte sich, um die
Füße zu betrachten. Veronica erbleichte, als sie den Metallhaken sah, der die
Schulter des Mannes durchbohrt hatte. Rings um die Austrittswunde war die Haut
aufgerissen. Das Blut war längst getrocknet und weggewischt worden.
    Newbury zog am linken Fuß des Toten die Zehen auseinander, als wäre
es eine ganz normale Untersuchung, wie er sie jeden Tag vornahm. Veronica
wollte nicht einmal versehentlich gegen einen Toten stoßen, ganz zu schweigen
davon, sie absichtlich zu berühren. Das letzte Mal hatte sie im vergangenen
Jahr im Wrack der Lady Armitage so viele Tote auf
einmal gesehen, nachdem das Luftschiff in Finsbury Park abgestürzt war. Später
hatte sich herausgestellt, dass es sich bei allen Toten um Opfer der
Wiedergängerseuche gehandelt hatte, die in gewisser Weise schon vor dem Absturz
tot gewesen waren. Aber das hier? Hier war etwas Monströses im Gange.
    Â»Genau wie ich dachte.« Newbury
ließ den Toten los. Der Haken quietschte, als die Leiche pendelte und mit
dumpfem Klatschen gegen eine andere prallte, die ebenfalls zu pendeln
begann. Der Kopf wackelte dabei hin und her, als nickte der Tote. Veronica
wandte sich ab.
    Â»Was meinen Sie damit?«, quetschte sie heraus, während sie gegen den
Brechreiz ankämpfte. Wohin sie auch blickte, sah sie verwesende Augäpfel,
ausgeweidete Bäuche oder Schlimmeres. Sie konzentrierte sich lieber auf
Newburys Gesicht.
    Â»Ist es Ihnen noch nicht aufgefallen? Alle Toten sind Männer. Es
gibt hier keine einzige Frau. Was sagt Ihnen das?«
    Veronica seufzte. Das war wirklich nicht der richtige Augenblick für
ein Detektivspiel. »Nein, das ist mir noch nicht aufgefallen«, entgegnete sie
hitzig. Ich habe viel zu viel damit zu tun, diese ganze
Situation widerlich zu finden, und weiß nicht mehr, was ich sagen soll ,
dachte sie, auch wenn sie den Gedanken für sich behielt.
    Â»Sie sind genau wie Sykes. Alle. Sauber und ungebraucht, als hätten
die Körper nie wirklich gelebt.« Er hielt inne und ließ ihr Zeit, die Worte zu
verdauen. »Es sind Kopien.«
    Â»Noch mehr Duplikate? Aber in diesem Ausmaß …« Sie brach mitten im
Satz ab und dachte wieder an Amelia. Irgendwie hing das alles zusammen, und sie
konnte nur wider alle Wahrscheinlichkeit hoffen, dass die Duplikate, die sie im
Grayling Institute entdeckt hatte, nicht so enden würden wie diese Toten hier.
Das wäre einfach zu viel, um es zu ertragen. »Sagten Sie nicht, Sie hätten ein
paar erkannt?«
    Newbury nickte. »Die Männer von unten. Deshalb gibt es hier keine
Frauen. All diese Toten sind Mitglieder der Bastion Society. Schauen Sie her.«
Er winkte sie zu sich und deutete auf eine Leiche, die einen Schritt vor ihm
hing. Sie erkannte das Gesicht sofort.
    Â»O Gott! Das ist Enoch Graves!« Sie schluckte, doch ihr Mund war
trocken. Der Tote war kastriert, der Brustkorb geöffnet, das Herz
herausgerissen. »Was um alles in der Welt tun sie nur hier?« Sie war ganz und
gar entsetzt und begriff rein gar nichts mehr.
    Newbury legte ihr den Arm um die
Schultern. Sie schmiegte sich an ihn und barg das Gesicht in seiner Halsbeuge.
Sie wollte nicht mehr hinschauen.
    Â»Die okkulten Symbole deuten auf
eine Art Übertragungsritual hin«, erklärte er wie ein Professor, der
einen Vortrag hielt. Anscheinend konnte er nur mit dieser grässlichen Situation
umgehen, indem er seine emotionale Reaktion
verdrängte und die Sache leidenschaftslos wie ein Wissenschaftler
betrachtete. Wie ein Rätsel, das es zu lösen galt.
    Â»Was für eine Übertragung?«
    Â»Es geht wohl darum, ein Gleichgewicht zu erzeugen. Gewisse
Religionen und Philosophien gehen davon aus, dass jede Tat, die ein Mensch
begeht, Konsequenzen hat, und das Universum fände stets einen Weg, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wenn Sie
jemanden verletzen, ist es wahrscheinlich, dass umgekehrt auch Sie