Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Immorality Engine

Immorality Engine

Titel: Immorality Engine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Mann
Vom Netzwerk:
weiter, trat vorsichtig über
die Schwelle und lauschte aufmerksam, ob sich etwas rührte. Anscheinend war die
Luft rein. Sie huschte ganz nach drinnen und winkte Newbury, ihr zu folgen.
    Allmählich schälten sich die Umrisse von Möbeln und andere, zunächst undefinierbare Formen aus der Dunkelheit
heraus. Bücherregale, ein Schreibtisch, eine hohe Stehlampe – all das, was
man für gewöhnlich im Arbeitszimmer eines Gentleman vorzufinden erwartete. Der
Raum wirkte völlig normal. Das dachte sie jedenfalls, bis sie das Ding an der
Wand sah. Beinahe hätte sie aufgeschrien, als ihr Blick darauf fiel. Es war ein
ausgestopfter Löwenkopf, der über dem Schreibtisch auf einer Holzplatte
befestigt war. Das Raubtier hatte das Maul zu einem prächtigen Brüllen
geöffnet, fletschte die Zähne und starrte sie mit Glasaugen an, in denen sich
das Sternenlicht spiegelte, das durch die Fenster hereinfiel. Eine Trophäe,
dachte sie, die jemand von einem Beutezug in Afrika mitgebracht hatte. Es war
makaber, egoistisch und völlig überflüssig.
    Newbury stand auf einmal hinter ihr. Er beugte sich vor und flüsterte
so leise, dass sie es kaum verstehen konnte: »Da ist die Tür.« Er deutete auf
die gegenüberliegende Wand, wo Veronica einen dünnen Lichtstreifen erkannte,
der unter der Tür hereindrang. »Warten Sie hier, ich will es mir ansehen.«
    Er huschte an ihr vorbei und wich der Couch aus, die mitten im
Zimmer in der Nähe des Schreibtischs stand. Langsam drehte er den Türknauf herum und zog die Tür ein kleines Stück auf, bis er
in den Flur hinausspähen konnte. In dem Licht, das schräg durch den
Spalt hereinfiel, zeichnete Newbury sich als scharf umrissenes Relief ab.
    Er blickte über die Schulter zu ihr zurück. »Kommen Sie«, sagte er.
»Hier ist alles klar.«
    Newbury trat hinaus, Veronica folgte ihm.
    Ihre Augen benötigten einen Moment, um sich an das grelle Licht der
Gaslampen zu gewöhnen, die im Flur brannten. Sie standen jetzt in einem langen,
mit Läufern ausgelegten Gang, von dem fünf oder sechs weitere Türen abgingen.
Herausragende Werke einiger Präraffaeliten wie Waterhouse und Millais
schmückten die Wände. Neben Rittern der Tafelrunde, die schöne Jungfern
retteten oder in die Schlacht zogen, hingen grüne, liebliche Landschaften
Englands mit Burgen, die sich in der Ferne am Horizont abzeichneten. Es waren
Visionen einer Welt, die außer in den Träumen einiger Fantasten oder in uralten
Sagen und Märchen nie existiert hatte. Hier hingen sie nun an den Wänden und dienten den Mitgliedern der Bastion
Society als Fenster, durch die sie in eine vermeintlich prachtvolle
Vergangenheit zurückblicken konnten, in das geheime, längst verlorene Zeitalter
von Ritterlichkeit und Magie. Veronica musste zugeben, dass die Kunstwerke
durchaus eine gewisse Stimmung erzeugten, eine
Art romantische Verklärung und die
Sehnsucht nach einer Zeit, die es nie gegeben hatte.
    Sie blickte den Flur hinunter zu Newbury, der an verschiedenen Türen rüttelte, um eine zu finden,
die nicht verschlossen war. Als sich eine öffnete, zog er sie ohne Zögern ganz
auf und verschwand in dem Raum. Veronica folgte ihm auf Zehenspitzen. In der
Ferne vernahm sie ein monotones Summen. Dort waren offenbar viele Menschen
versammelt, die sich angeregt unterhielten. Gelegentlich klirrten Gläser,
Geschirr und Besteck. Vermutlich drangen die Geräusche von dem großen Saal im
Erdgeschoss herauf, wo sie bei ihrem ersten Besuch mit Enoch Graves gesprochen
hatten. An diesem Abend herrschte anscheinend mehr Betrieb. Sie fragte sich, ob
wieder ein Bankett stattfand.
    Veronica wollte gerade das Zimmer
betreten, in dem Newbury verschwunden war, als er schon wieder
kopfschüttelnd herauskam. Sie zuckte mit den Achseln, und er winkte sie weiter
den Flur hinunter. Auch dort probierten sie alle Türen und fanden nur eine
einzige, die unverschlossen war.
    Es handelte sich um eine Art Schlafzimmer. In einer Ecke stand eine
Pritsche, zudem gab es einen Herrenkleiderschrank und eine Kommode. Hier hing ebenfalls ein Gemälde an der Wand – ein
Ritter, der eine glänzende Plattenrüstung trug und einer rothaarigen Jungfer half, vom Pferd abzusteigen.
    Veronica nahm an, dass die Bastion Society solchen Bildern einen
hohen symbolischen Wert beimaß. Vermutlich betrachteten die Mitglieder

Weitere Kostenlose Bücher