Immortalis
«Wie Sie wollen. Aber ich möchte Sie bitten, noch über etwas anderes nachzudenken. Überlegen Sie es sich, ob es nicht besser wäre, wenn Sie das Land verlassen würden.» Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber er hob die Hand. «Ich weiß, Sie haben das Bedürfnis hierzubleiben, und das ist nur zu verständlich. Ich wollte ja auch, dass Sie bleiben, weil ich dachte, Sie erinnern sich vielleicht an etwas, das wichtig sein könnte. Aber die Sache gerät zusehends außer Kontrolle. Ich weiß, Sie wollen helfen, Ihre Mom zurückzuholen, aber ich glaube, realistisch gesehen gibt es für Sie nichts mehr zu tun. Die Typen heute waren bereit, Sie umzubringen. Sie müssen an Ihre Sicherheit denken. Wir können Sie schützen, aber … ich kann für Ihre Sicherheit einfach nicht garantieren. Ich sage ja nicht, dass Sie weit wegfahren müssen, aber selbst auf Zypern wären Sie besser aufgehoben als hier. Ich möchte nur, dass Sie darüber nachdenken. Okay?»
Mia spürte, wie ihre Brust sich verengte. Sie wusste, dass sie in den letzten zwei Tagen vermutlich jegliche Gunst des Schicksals, die ihr gewährt war, restlos aufgebraucht hatte. Wenn sie jetzt noch länger hierbliebe, würde sie das Schicksal in Versuchung führen. So ernüchternd Corbens Vorschlag auch sein mochte, es war klug, darüber nachzudenken. Andererseits kam man hier mit rationalem Denken nicht weiter. Sie konnte nicht weg. So einfach war es. Sie wusste, dass sie hier nicht in Sicherheit war, und sie war nicht einmal sicher, ob sie bei der Suche nach ihrer Mom noch irgendetwas beizutragen hatte. Aber sie gehörte dazu. Sie fühlte sich verbunden – nicht nur mit ihrer Mom, sondern auch Rames und Faruk und deren Kampf ums Überleben. Sie fühlte sich verbunden mit der Stadt und ihren Menschen und empfand – es war nicht zu leugnen – eine perverse und gefährlich primitive Begeisterung, wenn die Kugeln flogen und sie um ihr Leben rannte.
Es war ein verwirrender Cocktail aus Schrecken und Erleichterung, und sie wusste nicht, welchem Instinkt sie folgen sollte. Sie sah Corben an. «Dann tun Sie Ihr Bestes», murmelte sie schließlich. Sie wollte das Thema jetzt nicht weiterverfolgen. «Mehr kann ich nicht verlangen.»
«Okay.» Er schwieg kurz und nickte dann aufmunternd. «Wir holen sie zurück.»
Sie wusste, dass dies nicht gewiss war. Ganz im Gegenteil. Die Chancen standen nicht gut.
Ein tiefes Verlustgefühl überkam Mia, sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster auf die Stadt mit ihrem sonnenüberfluteten Beton, die draußen vorüberzog.
36
Corben besorgte Mia einen Arbeitsplatz in einem kleinen, ungenutzten Büro neben der Pressestelle, wo sie Telefon- und Internet-Anschluss hatte.
Angesichts des demnächst zu erwartenden Anrufs von Faruk und der brenzligen Situation hatte er vorgeschlagen, dafür zu sorgen, dass jemand sie in einem Hotel oder in einem Safe House der Botschaft unterbrachte, wo man auf sie aufpassen werde. Er würde ihre Sachen aus seiner Wohnung hinüberbringen lassen, sobald er selbst Gelegenheit hätte, nach Hause zu fahren; einstweilen solle sie ihm sagen, wenn sie etwas brauche.
Er ließ sie im Nebengebäude zurück und ging über den Hof zur Hauptvilla und zum Büro des Botschafters.
Mia wollte so schnell wie möglich mit ihrem Kollegen über die Polaroid-Fotos sprechen. Der Gedanke daran beunruhigte ihn ein wenig. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie außer Landes gegangen wäre. Der Hakim und seine Leute übten keinerlei Zurückhaltung, ihnen waren die Folgen ihrer Taten vollkommen gleichgültig. Abgesehen davon, dass sie Faruk identifizieren konnte, hatte Mia vermutlich nichts weiter beizutragen. Trotzdem würde sie bleiben; das wusste er. Und es weckte gemischte Gefühle in ihm.
Ungeachtet der Situation war er gern mit ihr zusammen. Sie sah gut aus, sie war gescheit, und sie war Amerikanerin. Es war etwas anderes als die beiläufigen Bekanntschaften, die er ab und zu gehabt hatte, seit er in dieser Ecke der Welt stationiert war. In Beirut gab es keinen Mangel an Frauen – ganz im Gegenteil. Viele Männer hatten das Land verlassen, um irgendwo anders ihr Glück zu machen, ein anständiges Einkommen zu beziehen und das Risiko, durch einen Granatsplitter zu sterben, zu reduzieren. Corben hingegen war vor Ort und noch dazu attraktiv. Angesichts der sexuell aufgeladenen Atmosphäre, die infolge der ständigen – und im vergangenen Sommer äußerst realistischen – Kriegsgefahr die ganze Stadt mit
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