Immortalis
konnte. Dann übernahm Corben das Kommando und führte sie zur Tür hinaus. Die beiden Polizisten erhoben keine Einwände, sie sagten kein Wort, obwohl Mia ihre Aussage noch nicht offiziell zu Protokoll gegeben hatte. Corben berief sich offensichtlich auf ein höheres Gesetz, und sie traten einfach beiseite und ließen sie gehen. Benommen folgte sie Corben durch das Polizeirevier zum Hinterausgang und ging hinaus in eine strahlende, sonnendurchflutete Freiheit, ohne auch nur ein einziges Formular auszufüllen oder gar ein Entlassungspapier zu unterschreiben.
Er führte sie zielstrebig zu seinem Wagen, einem anthrazitfarbenen Grand Cherokee mit dunkel getönten Scheiben und Diplomaten-Kennzeichen, der zwischen den Streifen- und Geländewagen der Fuhud parkte. Er half ihr beim Einsteigen, dann setzte er sich ans Steuer. Er fuhr den Wagen über den Polizeiparkplatz, nickte dem Posten am Tor kurz zu und fädelte sich in den Mittagsverkehr ein.
Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel. «Vor dem Revier stehen zwei Reporter. Ich wollte nicht, dass Sie denen in die Hände fallen.»
«Sie wissen von mir?»
Corben nickte. «Es gab eine Menge Zeugen gestern Abend. Aber keine Sorge. Bis jetzt haben wir den Namen Ihrer Mom aus der Sache heraushalten können, und Sie wurden auch noch nirgends erwähnt. Dabei möchte ich es gern belassen, zumindest was Sie betrifft. Die Jungs bei der Polizei haben ihre Befehle. Sie wissen, was sie sagen dürfen und was sie für sich behalten müssen.»
Mia hatte das Gefühl, aus dem Winterschlaf zu erwachen. «Erwähnt – Sie meinen, in den Nachrichten?»
«Die Entführung Ihrer Mom stand heute Morgen in der Zeitung. Im Moment ist nur von einer unbekannten Amerikanerin die Rede, aber den Namen werden sie im Laufe des Tages erfahren, denn die Botschaft wird eine Presseerklärung abgeben müssen. Wir bemühen uns noch, es herunterzuspielen, aber allmählich kommt Dampf in die Sache. Die Regierung ist ebenso wenig scharf auf Publicity wie Sie. Es bedeutet schlechte Presse für das Land, und im Moment ist die Lage ziemlich sensibel, wie Sie sicher wissen. Man wird versuchen, daraus einen schiefgegangenen Deal mit gestohlenen Antiquitäten zu drehen, einen Streit zwischen Schmugglern – etwas in der Art.»
«Aber das ist Quatsch», protestierte Mia. «Meine Mom ist keine Schmugglerin.»
Corben zuckte mitfühlend die Achseln, aber er schien nicht überzeugt zu sein. «Wie gut kennen Sie sie?»
Vielleicht lag es daran, dass sie erschöpft und hungrig war, vielleicht auch daran, dass sich seine Andeutung nicht ganz von der Hand weisen ließ – jedenfalls wusste Mia nicht mehr, was sie denken sollte.
«Sie ist meine Mutter», stellte sie nüchtern fest.
«Das ist keine Antwort auf meine Frage.»
Mia runzelte die Stirn. «Ich bin erst seit drei Wochen hier, okay? Davor war ich in Boston. Ich kann also nicht behaupten, dass wir wie Pech und Schwefel zusammenkleben, aber sie ist trotzdem meine Mutter, und ich weiß, wie sie ist. Ich meine … Haben Sie sie mal kennengelernt? Sie entwickelt eine messianische Begeisterung, wenn es um Archäologie geht.» Mit einem müden Seufzer fügte sie hinzu: «Sie ist ein guter Mensch.»
Ein guter Mensch. Sie wusste, wie nichtssagend das klang, aber letzten Endes war sie davon fest überzeugt.
«Was ist mit Ihrem Dad? Wo ist der?»
Leise Trauer zog wie eine Wolke über Mias Gesicht. «Ich habe ihn nie kennengelernt. Er starb kurz nach meiner Geburt. Bei einem Autounfall. Auf der Straße nach Jordanien.»
Corben warf einen Blick zu ihr herüber und nickte. «Das tut mir leid», sagte er schließlich.
Sie starrte stumm aus dem Fenster. Auf der Straße waren viele Menschen unterwegs. Sie gingen ihrer täglichen Routine nach, und einen Moment lang zog sich Mias Herz vor Neid zusammen. Sie sehnte sich nach dieser Unbekümmertheit. Doch dann fiel ihr ein, dass diese Leute wahrscheinlich auch nicht so sorglos waren, wie sie aussahen, wenn man bedachte, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatten und wie zerbrechlich ihre Heimat war. Sie konnte nicht wissen, was hinter ihren liebenswürdigen Fassaden vorging, und sie dachte: Wenn es darauf ankommt, wissen wir vielleicht gar nicht so sehr viel über die anderen. Mit leisem Schuldbewusstsein fragte sie sich plötzlich, ob Baumhoff und Corben nicht doch vielleicht recht hatten. Eigentlich kannte sie ihre Mutter gar nicht so gut. Sie wusste nicht, was in ihrem Leben vorging. Und in einem solchen Fall konnten
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