Immortalis
Gefühl, dass die Sache noch viel ernster ist, als ich dachte?»
Seine Miene verfinsterte sich beunruhigend. «Sie wussten doch schon, dass sie ernst ist.» Seine Worte und der Klang seiner Stimme bohrten sich tief in ihren Kopf. Anscheinend spürte er ihre Angst, denn er ergänzte beschwichtigend: «Sie sind in guten Händen. Aber wir sollten einen Schritt nach dem anderen tun.» Er wartete auf ihr zustimmendes Nicken, und schließlich brachte sie eines zuwege.
Langsam schob er die Tür auf. Sie führte in eine kleine Eingangsdiele, und dahinter sah man das Wohnzimmer. Er warf einen Blick hinein. In der Wohnung war es nicht sehr hell, denn die Straße war schmal, und das Haus war umgeben von höheren Gebäuden. Eine morbide Stille herrschte hier.
Er trat ein und winkte Mia, ihm zu folgen.
Das geräumige Wohnzimmer hatte ein Fenster und eine doppelte Glasschiebetür, die auf einen Balkon über der Straße führte. Es war so, wie sie es in Erinnerung hatte – behaglich eingerichtet mit dickgepolsterten Sofas, Perserteppichen und vollgestopft mit dem Sammelsurium eines von Reisen und Forschungsarbeiten erfüllten Lebens: An den Wänden hingen gerahmte Manuskripte und Stiche. Antiquitäten und Ausgrabungsobjekte auf kleinen Ständern standen verstreut auf Regalen und Sideboards, und überall stapelten sich Bücher. Mia ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Alles hier erzählte von Evelyns erfülltem Leben und von der Hingabe, mit der sie ihren gewählten Weg gegangen war. Es vermittelte Mia ein friedliches Gefühl der Geborgenheit, und es war durchdrungen von einer persönlichen Geschichte. Daneben erschien ihr die spartanische Mietwohnung in Boston, die bisher ihr Zuhause gewesen war, regelrecht trostlos – von ihrer derzeitigen Bleibe, dem Hotelzimmer im Commodore, gar nicht zu reden.
Wie im Nebel wanderte sie in dem großen Zimmer umher, benommen von den Erinnerungen, die über sie hinwegfluteten. Sie blieb vor den eingerahmten Manuskripten stehen und betrachtete die ungewöhnlichen Abbildungen des menschlichen Körpers und die verschnörkelten Schriftzeichen um sie herum. Corben ging weiter durch die Wohnung. Sie folgte ihm und sah, wie er aus dem Schlafzimmer ihrer Mom kam, einen Blick ins Gästezimmer und in das Bad warf und an ihr vorbei ins Wohnzimmer zurückging.
An der Tür zum Schlafzimmer zögerte Mia. Das Nachmittagslicht, einladend und weich, wehte durch die Gardinen herein. Hier war sie seit Jahren nicht gewesen. Ein unverwechselbarer Duft empfing sie, lebendig und warm, und plötzlich war es, als sei sie wieder zehn Jahre alt und tappe spätabends ins Zimmer ihrer Mutter, um sich zu ihr ins Bett zu kuscheln. Zaghaft ging sie auf die Frisierkommode zu. Ringsherum am Spiegel klemmten Fotos von ihr in jedem Lebensalter. Ihr Blick fiel auf eines, das sie mit dreizehn oder vierzehn zusammen mit Evelyn zeigte. Lächelnd standen sie vor den Ruinen von Baalbek. Sie konnte sich gut an diesen Tag erinnern. Es drängte sie, das Bild mitzunehmen, aber bei dem Gedanken war ihr nicht wohl. Also ließ sie es an seinem Platz.
Es machte sie plötzlich sehr traurig, als ungebetener Gast im Allerheiligsten ihrer Mutter zu stehen. Die Sorge um sie erfasste Mia wie ein Krampf. Schweren Herzens ging sie hinaus und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Corben sah unterdessen Evelyns Regale durch. Mia schlang schützend die Arme um sich und schob sich zu dem Fenster neben dem Balkon. Sie schaute hinaus auf die geschäftige Straße und sah zu, wie die Leute vorübergingen. Sie versuchte, Evelyn mit der Kraft ihres Willens unter ihnen auftauchen zu lassen, heil und unversehrt. Aber Evelyn kam nicht.
Stattdessen erschien ein marineblauer Mercedes der E-Klasse. Unauffällig glitt er am Haus vorbei und hielt kurz hinter dem Hotel an.
19
Corben taxierte das Zimmer mit erfahrenem Blick und kam zu dem Schluss, dass ein weiterer Besuch – länger und gründlicher – unumgänglich wäre, sobald Mia irgendwo sicher untergebracht war.
Außerdem würde er sich so bald wie möglich Evelyns Büro auf dem Campus ansehen müssen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis hier wie dort die libanesische Polizei auftauchte – auch wenn sie normalerweise nicht so schnell reagierte wie die Polizei zu Hause, was ihm in diesem Fall ganz recht war. Er hatte für kurze Zeit freie Hand, und er wusste, dass er diese Gelegenheit nutzen musste.
Eigentlich hätte er sich mit einem Entführungsfall wie diesem gar nicht befasst, zumal er keinen
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