Imperator
deine Entscheidung, Audax. Verrückte Sache, was? Hier sind wir, Kaiser und Sklave, der Höchste und der Niedrigste, der Oberste und der Unterste. Und dennoch hast du in diesem Augenblick dank eines schlichten Messers mehr Macht hat als jeder andere Mensch der
Welt, und jedes Mal, wenn du auch nur zitterst, erbebt die ganze Geschichte.«
»Das stimmt«, flüsterte Thalius. »Das stimmt! Eine dreihundert Jahre alte Prophezeiung, die wahr wird – das Schicksal der ganzen künftigen Welt – alles konzentriert sich auf diesen Moment, auf ein Messer in der Hand eines Sklaven!« Aber Tarcho brachte ihn grob zum Schweigen.
Konstantins Stimme wurde schwächer, sein Gesicht grauer. »Die Welt ist kompliziert, Audax«, flüsterte er. »Die Zukunft ist unbekannt. Und trotzdem müssen wir Entscheidungen treffen. Was meinst du, worauf solche Entscheidungen beruhen sollten? Auf Wörtern, die dir in den Rücken geritzt wurden, oder auf dem Urteil eines Mannes wie mir?«
Audax fühlte sich losgelöst von der Welt, als werde er gleich ohnmächtig. Sein ausgestreckter Arm war so steif, seine bluttriefenden Finger so taub, dass er das Messer kaum noch spürte und nicht mehr wusste, ob er stillhielt oder nicht.
Und als die Welt grau wurde, glaubte er die Wände des Raumes einstürzen zu sehen wie eine Mauer im Bergwerk, die den Blick auf Gänge zu im Nebel liegenden Bestimmungsorten freigab. Undeutlich erkannte er, dass der Kaiser die Wahrheit sprach, ebenso wie Thalius, dass gewichtige Ereignisse mit ihren Auswirkungen auf das Leben von Menschen für noch ungeborene Generationen davon abhingen, was er jetzt tat. Wem sollte er also vertrauen – wem oder was?
Wäre Konstantin Tarcho gewesen, hätte er nicht gezögert
– Tarcho, der einzige Mensch in seinem Leben, der jemals wirklich freundlich zu ihm gewesen war, vielleicht abgesehen von seiner Mutter, an die er sich nur vage erinnerte. Und doch war Konstantin Tarcho so ähnlich, dass er glaubte, ihm vertrauen zu können. Menschen waren real, dachte Audax. Menschen, ihre Charaktere und ihre Urteile. Das war das Einzige auf der Welt, was zählte. Wörter, Prophezeiungen, waren nichts.
»Ruft Euren Arzt«, sagte er.
Konstantins Augen bewegten sich nicht, aber seine Gesichtszüge wurden weicher. »Philip. Komm her. Aber bitte ganz langsam …«
Niemand wagte es, sich zu rühren, bis der griechische Arzt das Messer aus Audax’ Hand genommen und dann langsam aus der Brust des Kaisers gezogen hatte. Audax wich befreit zurück, mit brummendem Schädel, und dieses seltsame Gefühl der Losgelöstheit verschwand; der Raum schloss sich, bis er wieder nur ein Raum war.
Dann folgte eine Explosion von Bewegungen, und Klingen blitzten auf. Tarcho packte Thalius und Audax und zog sie aus dem Getümmel.
XIV
Im Herbst des Jahres, in dem Konstantin gestorben war, verabredete sich Thalius mit Audax vor der Treppe des Claudius-Tempels in Camulodunum.
Beunruhigt fragte er sich, wie er Audax erkennen sollte. Immerhin waren seit jener außergewöhnlichen Audienz beim Kaiser dreiundzwanzig Jahre vergangen. Und außerdem hatte er Angst davor, sein Haus zu verlassen. Es war ein Markttag, ein strahlend heller Herbstmorgen, und die Stadt würde von Bauern, ihren Frauen und Bälgern, ihren Hunden, Schafen und Rindern und den Händlern, Dirnen und kleinen Dieben wimmeln, die es auf sie abgesehen hatten. An manchen Tagen ähnelte Camulodunum eher einem riesigen Viehgehege als einer Stadt, dachte er mürrisch. Im außergewöhnlichen Alter von fünfundsiebzig Jahren fiel es Thalius zunehmend schwerer, seinen Alltag zu bewältigen, und an Tagen wie diesem zog er es vor, sich einfach in seinem Stadthaus einzuigeln.
Aber er hatte keine Wahl, denn dies war der einzige Tag, an dem Audax sich mit ihm treffen konnte. Der Junge hatte von seinem Posten im fernen Konstantinopel herkommen müssen, wobei der größte Teil seines Urlaubs für die komplizierte Reise durchs Westreich
draufgegangen war, und trotzdem musste er die meiste Zeit in Londinium verbringen, im Hauptquartier der Diözese der vier britannischen Provinzen. Nun, wenn Audax bereitgewesen war, eine so weite Strecke zurückzulegen, konnte Thalius doch wohl den Mut aufbringen, vor die Tür zu treten, um ihn willkommen zu heißen.
Und schließlich waren sie beide wegen des alten Tarcho hier.
Das Durcheinander vor dem Tempel war so schlimm, wie Thalius befürchtet hatte. Straßenhändler hatten Stände auf den Stufen und sogar im Säulengang
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