Imperator
dann die Reihe der Kreuze gezeigt, an denen die von Vögeln angefressenen Überreste von Sklaven baumelten – dort werde er ebenfalls enden, wenn er noch einmal einen Fehler mache –, und ihn dann einem stämmigen Rohling zum Auspeitschen übergeben.
Genauso empfand er es auch jetzt, als Thalius und Aurelia ihn in den kunstvoll ausgestalteten, schreinartigen Raum führten, wo der Kaiser auf seinem Thron saß. Der Raum war von Licht erfüllt, das von der Kleidung und der juwelenbesetzten Krone des Kaisers zurückgeworfen wurde und ihn blendete. Audax erkannte ein paar der Leute um den Kaiser herum. Rechts von
ihm saß Helena, seine Mutter; sie war fast so auffällig gekleidet wie ihr Sohn. Zur Linken des Kaisers stand Cornelius; sein Blick war auf Audax gerichtet, während er dem Kaiser etwas zuflüsterte. Und hinter ihnen standen Soldaten mit harten Augen, die Hand am Heft ihres Stichschwerts, und beobachteten jede Bewegung.
Er wurde bis auf einen Schritt an den Kaiser herangeführt, so nah, dass er ihn berühren konnte. Konstantin war Furcht einflößend. Audax glaubte spüren zu können, wie Hitze von ihm ausstrahlte. Er hatte sein Leben lang den Instinkt unterdrückt, Widerstand zu leisten, aber diesmal konnte er nicht anders; er wich zurück. Doch dann schaute Konstantin ihm in die Augen und lächelte ihn an. Plötzlich wirkte er menschlich, und Audax’ Furcht legte sich ein wenig.
Thalius und Aurelia – er nervös, sie mit ruhiger Zuversicht – begannen, Audax’ Narben und deren Entstehung zu beschreiben. Sie sprachen lateinisch, aber Audax bekam das eine oder andere mit; es ging um eine Familiengeschichte, um eine reiche Frau, die ihre Nachkommen in die Sklaverei verkauft hatte … Konstantin hörte mit leicht gelangweilter Miene zu. Audax stellte sich vor, dass er jeden Tag Hunderten von Leuten zuhörte, die ihm alle unbedingt eine Geschichte erzählen mussten.
Dann folgte die Enthüllung der Narben. Aurelia drehte den Jungen um und befahl ihm, die Tunika über den Kopf zu ziehen. Audax wartete, den Kopf von seiner Tunika umhüllt. Er roch seinen eigenen Schweiß und hörte die gedämpften Stimmen der Erwachsenen,
während sie über das Einzige an ihm sprachen, was ihn für sie interessant machte. Ein Akrostichon … christliche Elemente, das Alpha und das Omega … verschlüsselte Wörter. Er spürte, wie ein warmer, schwerer Finger über seinen Rücken fuhr, vielleicht der des Kaisers, und seine barsche Stimme kitzelte die Wörter heraus: constare , perire .
Der Junge wurde aufgerichtet, die Tunika rutschte wieder herunter, und er wurde zum Kaiser umgedreht. Audax sah, dass einer der Wachposten das Schwert gezogen hatte. Jeder verstand die wahre Bedeutung der beiden Wörter. Plötzlich herrschte eine enorme Spannung in dem Raum, und Audax, der in ihrem Mittelpunkt stand, hatte große Angst.
Es war Helena, die als Nächste sprach. Bedroht ihr meinen Sohn? Wird er heute sterben?
Man sah Thalius an, wie erschrocken er war; mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Seine Antwort kam hastig. Niemand wird sterben … Keine Drohung … Wir bringen Euch die Prophezeiung in gutem Glauben, wir haben sie nicht verfasst … Wir hoffen, dass sie Euch als Richtschnur für eine bessere Zukunft für uns alle dienen möge … Wir bringen Euch einen Brief … Er tastete unter seiner Toga nach seinem Dokument, und die Wachen starrten ihn noch aufmerksamer an.
Und während sie abgelenkt waren, stellte Audax plötzlich fest, dass er ein Messer in der Hand hielt, eine schöne, polierte Klinge. Aurelia hatte es dort hineingelegt. Als er auf die Klinge hinunterschaute, schlossen
sich ihre kalten Finger um Audax’ Hand und das Messer.
Und sie versetzte Audax einen Stoß und streckte dabei seinen Arm, und die Klinge wurde nach vorn gestoßen. Audax beobachtete das alles, als befände er sich außerhalb seines Körpers. Ihm war sein Leben lang eingebläut worden, dass man sich nicht wehrte, wenn ein Erwachsener einen herumschubste; nicht einmal einen Muskel durfte man rühren. Darum war es seine Hand, die das Messer hielt, aber Aurelias Kraft, die es durch Stoffschichten, eine kurzzeitig widerstehende Haut und dann in die feuchte Wärme dahinter stieß.
Noch während sich das Messer in die Brust des Kaisers bohrte, schrie Aurelia: »Nein! Der Sklave ist ein Schurke! Helft mir, ihn aufzuhalten, oh, helft mir!« Als das Messer bis zum Heft eingedrungen war, wich Aurelia mit einem Aufschrei
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