Imperator
gerade ausrauben wollten! Vergiss es, Thalius. Nimm die Schriftrolle – sie werden nicht zurückkommen, um sie dir wieder abzunehmen. Wahrscheinlich war sie sowieso gestohlen, und sie wird sonst nur verrotten.«
Thalius nickte. »Wenn man es nicht korrekt regeln kann …« Er blickte auf. »Aber woher kennst du meinen Namen?«
Der Soldat lächelte. »Du hast dich wirklich nicht verändert, mein lieber Thalius. Als ich hierherkam, wusste ich, dass ich nur dem Geruch muffiger alter Bücher folgen musste, um dich zu finden.«
»Audax!«
XV
Thalius schämte sich der Tränen, die in seinen Augen brannten. »Ich bin solch ein Narr. Irgendwie hatte ich erwartet, den kleinen Jungen von damals vor mir zu sehen. Herrje, wie sehr du dich verändert hast! Ich hätte dich wirklich nicht wiedererkannt – was für ein Baum von einem Mann aus dem kläglichen Schössling herangewachsen ist, den ich vor all den Jahren in dieser Goldmine gefunden habe!«
Aber Audax’ Gesicht bewölkte sich ein wenig, und Thalius erkannte, dass es Erinnerungsschichten gab, an die man wohl am besten nicht rührte.
Hastig fuhr er fort: »Außerdem hatte ich angesichts all der Bücher ganz vergessen, dass ich hier war, um nach dir Ausschau zu halten, weißt du. So ist das heute leider bei mir. Und jetzt beschützt du mich, so wie der arme Tarcho mich all diese Jahre beschützt hat.«
»Es ist lange her.«
»Und wie geht es deiner Frau?«
»Melissa geht es gut. Wir haben ein Stadthaus in Konstantinopel – kleiner als deines, Thalius, aber für uns ist es gerade richtig.« Vorsichtig sagte er: »Dort scheint alles besser zu sein. Im Osten. Es gibt jede Menge kleine Bauern, die ihr eigenes Land besitzen –
anders als hier, wo ein paar Superreiche ganze Landstriche ihr Eigen nennen. Dort gibt es nicht dieselbe …« Er wedelte mit der Hand; die mangelnde Wortgewandtheit des Soldaten machte sich bemerkbar.
»Enorme Ungleichheit?«, beendete Thalius betrübt den Satz für ihn. »Ich weiß, Audax, sie richtet uns alle zugrunde, ebenso wie der Niedergang der Bildung … Aber du hast Söhne. Tarcho hat mir alles über sie erzählt. Er war immer begeistert von deinen Briefen.«
Audax lächelte. »Ich habe den älteren Tarcho genannt – aus ihm wird auch ein Soldat, glaube ich! Aber der jüngere hat mehr Verstand als Muskeln. Er ähnelt eher dir, Thalius. Letztlich sind wir doch eine Familie. Ich bin froh, dass ich ihn nach dir genannt habe.«
Thalius war entzückt. »Es wäre wundervoll, wenn ihr näher bei uns leben würdet, dann könnte ich ihn kennenlernen – und ihm vielleicht ein bisschen Privatunterricht erteilen.«
»Mein Platz war immer an der Seite des Kaisers.«
»Ich verstehe.«
»Jedenfalls bin ich jetzt hier – wegen des ersten Tarcho …«
»Ja. Der arme Tarcho! Komm. Gehen wir ein Stück.«
Sie entfernten sich von dem Bücherstand. Audax bahnte ihnen mit Hilfe seiner breiten Schultern und der militärischen Insignien mühelos einen Weg, und sie stiegen die Stufen hinauf, durchquerten den Säulengang und betraten den Tempel. Die relative Stille
unter dessen Dach war eine Erleichterung für Thalius, aber er hatte Schmerzen beim Gehen.
Audax berührte Thalius am Arm und bot ihm an, ihn zu stützen. »Wie geht es dir?«
»Mir ist, als hätte dieser Schläger seinen Arm bis zum Ellbogen in mir versenkt«, keuchte Thalius.
»Wenn du meinst, dass du einen Arzt brauchst …«
»Ich würde lieber mit dir spazieren gehen, alter Freund.«
Audax schaute sich in dem Tempel um. »Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr hier, und damals war ich zu jung oder zu verwirrt, um das alles zu verstehen. Eine verblüffende Pracht, nicht wahr?«
»Du meinst, für eine heruntergekommene Provinz wie diese? Nun ja, das stimmt, aber er hat die Jahre gut überstanden.« Obwohl ein wenig Schutt und die welken Blätter des soeben zu Ende gegangenen Sommers auf dem Boden lagen, war das imposante alte Monument nicht in gar so schlechtem Zustand. Man sah, wofür das Geld jener Stadtbewohner ausgegeben wurde, die wie Thalius immer noch genug Bürgersinn besaßen, um sich um ihre Gemeinschaft zu kümmern: Reparaturen an den Dachziegeln, Ausbesserungsarbeiten an Säulen mit Frostrissen. »Aber außer dem göttlichen Claudius ist er jetzt auch Christus geweiht.« Thalius zeigte auf ein labarum , das in einer Ecke stand, das Feldzeichen eines christlichen Soldaten.
»Er steht noch«, sagte Audax. »Das ist mehr, als man heutzutage von vielen
Weitere Kostenlose Bücher