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Imperium

Imperium

Titel: Imperium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Kracht
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Ausdrucksweisen seines Gegenübers erfüllten ihn mit einer plötzlichen, heftig empfundenen Vertrautheit.
    Rasch griff er nach Govindarajans Hand und fragte ihn freiheraus, ob er Vegetarier sei. Aber ja, gewiß, kam die Antwort, er selbst und seine Familie habe sich seit Jahren nur von Früchten ernährt. Engelhardt konnte den Zufall dieser Begegnung kaum fassen, ihm gegenüber im Abteil saß nicht nur ein Geistesbruder, ein Seelenfreund, sondern ein Mann, dessen Ernährung ihn auf Gottes Stufe stellte. Waren nicht die dunklen Rassen den weißen um Jahrhunderte voraus? Und stellte nicht der Hinduismus, dessen höchster Ausdruck der Vegetarismus, also die Liebe war, im Weltengefüge eine Kraft dar, dessen allumspannendes, lichtes Rauschen dereinst jene Länder, denen das Christentum zwar Nächstenliebe geschenkt, darin aber nicht die Tiere einbezogen hatte, überstrahlen würde wie ein blendender Komet? Hatten nicht Rousseau und Burnett, dem Vegetarier Plutarch folgend, und als fällige Replik auf Hobbes’ Leviathan, behauptet, der dem Menschen angeborene Urinstinkt sei der Verzicht auf Fleisch? Und hatte nicht sein gräßlicher Onkel Kuno versucht, ihm als kleinen Jungen den Verzehr von Schinken dadurch schmackhafter zu machen, daß er ihm lachend und feixend aus dem dünnen Schweinefleischlappen eine rosa Zigarre gedreht, sie ihm hernach in den Kindermund gesteckt und spaßeshalber ein Zündholz an das herausragende Ende gehalten hatte? Und war nicht schließlich das Töten von Tieren, sprich die Zubereitung von Fleisch und die Ernährung des Menschen durch tierische Substanzen gar die Vorstufe zur Anthropophagie?
    Engelhardts Englischkenntnisse reichten manchmal nicht ganz aus, um solcherlei Fragen exakt zu formulieren - dennoch mußten sie heraus; wo ihm die abstrakten Termini fehlten, behalf er sich mit in die Luft gemalten Ideen wölken, mit Kometen, deren Spur von seinem Finger durch das sonnenhelle Abteil gezogen wurde.
    Engelhardt fragte seinen neuen Reisefreund, ob er von Swami Vivekananda gehört habe. Und als dieser verneinte, packte er aus seiner Reisetasche einige Pamphlete aus, die er erst schüchtern neben sich auf die Abteilbank legte, es waren die Schriften ebenjenes indischen Swamis, der in der Neuen Welt kraft seiner außergewöhnlichen Ideen und rhetorischen Gaben unlängst für Furore gesorgt hatte, sowie mimeographiert und mit einem Band zusammengeheftet (die fränkische Klebebindung hatte sich bereits im südlichen Roten Meer, bei Aden, aufgrund der starken Hitzeeinwirkung aufgelöst) sein eigenes Traktat, dessen Inhalt von der heilenden Kraft des Kokovorismus kündete, leider in deutscher Sprache, so daß Engelhardt zwar darauf als Ding verweisen, seinem neuen Freunde jedoch nicht seine eigenen Gedanken, die in Schriftform wesentlich kundiger formuliert waren, näherbringen konnte.
    Dennoch wollte er es nicht unversucht lassen; mit einiger Mühe paraphrasierte er den in seiner Schrift befindlichen Grundgedanken, daß der Mensch das tierische Abbild Gottes sei und wiederum die Kokosfrucht, die von allen Pflanzen dem Kopf des Menschen am meisten ähnelte (er verwies auf Form und Haare der Nuß), das pflanzliche Abbild Gottes sei. Auch wuchs sie ja, wohlgemerkt, dem Himmel und der Sonne am nächsten, hoch droben am Wipfel der Palme. Govindarajan nickte zustimmend und hob an, während ein kleiner Landbahnhof ohne Halt durchfahren wurde, aus der Bhagavata Purana eine entsprechende Stelle zu zitieren (nicht nur diese heilige Schrift hatte er in jungen Jahren, an der ehrwürdigen Universität von Madras, vollständig auswendig lernen müssen), besann sich dann aber darauf, einfach weiter zu nicken und sein Gegenüber erst ausreden zu lassen, um dann mit einer gewissen, ihm nun angebracht erscheinenden Gravitas anzumerken, daß der Mensch, ernähre er sich ausschließlich von der göttlichen Kokosnuß, nicht nur Kokovore wäre, sondern eben per definitionemTheophage, Gottesser. Er ließ dies einen Augenblick sacken und wiederholte dann den Ausdruck, in die nur vom Klicken der Schienen rhythmisierte Stille des Vormittags hinein: Godeater. Devourer of God.
    Engelhardt war überwältigt von jener Erkenntnis, ja, sie fuhr ihm buchstäblich ins Mark und begann dort zu wirken, als sei sie ein klingendes, summendes energetisches Feld. Jawohl, die Kokosnuß war, der köstliche Gedanke manifestierte sich ihm, in Wahrheit der theosophische Gral! Die offene Schale mit dem Fruchtfleisch und der süßen Milch

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