Implantiert
hatte zu spät gerufen. Die Plattform befand sich wieder auf dem Oberdeck. Von der Ecke, an der die Kuh gegen das Metall geprallt war, tropfte Blut herab. Alonzo trug Cappy zur Heckleiter, auf der Suche nach einem sichereren Weg nach unten. Sara warf einen Blick auf die Uhr. 21:11 Uhr.
Eine Minute.
Wie viel von dieser letzten Minute war bereits vergangen? Fünf Sekunden? Zehn? Die Zeit war abgelaufen. Sara spürte, wie ihr plötzlich heiß und unkontrollierbar Tränen über die Wangen strömten.
Ihre Crew würde es nicht schaffen.
Keine Zeit keine Zeit keine Zeit …
Bevor sie überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte sie sich Tim wieder auf die Schultern gehoben. Sie ging um den Tisch herum und rannte mitten in die Stampede. Brüllende schwarz-weiße Körper hoben und senkten sich neben ihr, rammten sie, schleuderten sie von einer Seite zur anderen, doch sie weigerte sich zu stürzen, weigerte sich zu sterben.
Keine Zeit keine Zeit keine Zeit …
Sie spürte, wie sich der Untergrund veränderte, als sie vom gummiüberzogenen Boden im Inneren des Flugzeugs auf die unter ihren Füßen widerhallende Stahlrampe trat und gleich danach eiskaltes, mehrere Zentimeter hohes Wasser unter ihren Sohlen wegspritzte. Wirbelnder Schnee tanzte im kegelförmigen Licht, das aus dem Inneren der C-5 nach außen drang. Eine breite, lange, nasse Rinne zog sich durch das schneebedeckte Eis. Wasser blubberte aus tausend kleinen Rissen nach oben und bildete eine schimmernde Oberfläche, die sich immer weiter ausbreitete und die fallenden Schneeflocken verschlang. Wie ein weißes Tuch hüllte der Schnee sie ein, legte sich um ihre Augen und ihren Mund.
Wie lange noch wie viele Sekunden noch werd’s nicht schaffen werdsnichtschaffen …
Sie wandte sich nach links, von der Rinne weg, und kämpfte sich ohne nachzudenken durch den hüfthohen Schnee. Sie fror nicht, und sie hörte die Kühe nicht mehr. Sie ging einfach immer weiter, weg vom Flugzeug, weg vom Tod, auf das Leben zu.
Wir sterben sowieso jeden Augenblick kann es jetzt –
Ein Knall, ein donnerndes Dröhnen, dann flog sie durch einen Hochofen-Hitzeschwall. Sie schlug hart auf und schlidderte mit dem Gesicht voran über das schneebedeckte Eis.
Schließlich kam Sara mühsam wieder auf die Beine und drehte sich um. Die Explosion hatte die C-5 unmittelbar hinter dem Cockpit und hinter den Flügeln auseinandergerissen – Magnus hatte also noch eine zweite Bombe angebracht. Grelle Flammen schossen neun Meter in die Höhe und erleuchteten die stürmische zugefrorene Bucht mit ihrem flackernden Glanz.
Links neben ihr lag Tim bewegungslos auf dem Rücken. Ihre Crew war entweder bereits tot, oder sie verbrannte gerade. Und sie konnte absolut nichts dagegen tun. Es gab überhaupt nur noch einen Menschen, den sie retten konnte – Tim Feely. Mit einer Bewegung, die sie inzwischen gut beherrschte, nahm sie ihn wieder auf ihre Schultern. Wie konnte er ihr nur jemals leicht vorgekommen sein? Sie trug seine reglose Last, wobei sie sich mit halben Schritten durch den hüfthohen Schnee schob.
Hinter sich hörte sie eine weitere Explosion, als die Tanks in Flammen aufgingen. Inzwischen war sie schon etwas weiter entfernt, so dass sie den mächtigen Wirkungen der Druckwelle entging. Sie drehte sich ein letztes Mal um und warf einen gequälten Blick zurück. Die brennende C-5 schien zu zucken wie eine sterbende Antilope unter dem Todesbiss eines Löwen. Es dauerte einen Augenblick, bis Sara begriff, warum: Das Flugzeug brach durch das geborstene Eis. Zuerst verschwand das Heck; sein Gewicht war schließlich zu hoch geworden für die immer dünner werdende Eisschicht. Ein tiefes, widerhallendes Knacken, als die Eisplatte brach, und dann ein Knirschen, als sich das Metall durch die gefrorene Oberfläche der Bucht schob. Schließlich versank das glühende Metall mit einem lauten Zischen im Wasser. Es dauerte nur Sekunden, dann war das Heck verschwunden.
Sara starrte noch immer auf die Bucht hinaus. Ihre Augen
suchten den blendenden Schnee ab, in der Hoffnung auf ein Wunder, in der Hoffnung, einen ihrer Freunde zu sehen. Vielleicht hatten sie es ins Freie geschafft, vielleicht waren sie auf der anderen Seite des Flugzeugs.
Das vibrierende Knacken ging weiter. Die Mitte des zerfetzten Flugzeugs sackte ein Stück weit nach unten; hielt sich noch einen Augenblick lang, gestützt von den brennenden, flach auf dem Eis liegenden Flügeln, doch dann knarrten die Flügel, sie bogen
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