In aller Unschuld Thriller
mit dem er die Wurst geschnitten hatte, ein zwanzig Zentimeter langes Fleischmesser, das scharf genug war, um Papier damit zu schneiden. »Es ist einfach besser, immer weiterzuziehen.«
Zog er von einer Stadt zur nächsten, um unschuldige Menschen umzubringen? Der Computer hatte zwar das Vorstrafenregister von Karl Dahl ausgespuckt, aber man konnte nicht wissen, was er an Verbrechen begangen hatte, für die er nicht zur Verantwortung gezogen worden war. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die nicht auffielen.
Niemand wollte Männern wie Karl Dahl allzu viel Aufmerksamkeit schenken, sie waren seltsam, still, gehörten nicht dazu. All die anständigen Bürger mit ihrer Arbeit, ihren Hypotheken und Kindern wollten von den Karl Dahls dieser Welt nichts weiter, als dass sie möglichst bald wieder verschwanden.
Vielleicht hatte Dahl Mord um Mord begangen, während er von einer Stadt zur nächsten gewandert war. Vielleicht war er unsichtbar geblieben, mit seiner Umgebung verschmolzen, hatte keinerlei Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Wäre da nicht der Nachbar gewesen, der an diesem schicksalhaften Tag törichterweise vor sein Haus gegangen war, um den Tornado zu filmen, der sich der Stadt näherte, wäre Karl Dahl nach dem Massaker im Haus der Familie Haas vielleicht einfach unbemerkt verschwunden, hätte den nächsten Zug bestiegen, wäre in einen anderen Bundesstaat gefahren, und der Fall Haas wäre nie aufgeklärt worden.
»Komm«, sagte er.
Er legte das Essen zur Seite und trat zu ihr.
Carey blieb ganz still sitzen, wie ein kleines Beutetier, das es nicht wagt sich zu bewegen oder zu atmen. Er fasste sie am Handgelenk und zog sie von dem Stuhl hoch. Nicht grob, aber entschlossen.
»Ich habe dieses hübsche Bett für dich gemacht«, sagte er. »Ich will, dass du dich jetzt hinlegst.«
Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber das Entsetzen wurde noch stärker, überwältigender. Sie wusste nur zu genau, was Marlene Haas widerfahren war.
Hatte es so angefangen? Hatte Dahl sich auf die Frau fixiert, sie zu seinem Engel erklärt, weil sie ihm geholfen hatte, hatte er sie dann körperlich besitzen wollen und war in Wut geraten, als sie ihn zurückgewiesen hatte? Die Wut hatte die Dämonen losgelassen, die in seiner Seele hausten. Die Dämonen hatten sich in einen Blutrausch gesteigert.
»Leg dich hin«, befahl er, als sie an den Rand der Bettstatt trat, die er für sie aufgeschlagen hatte. Die Vorstellung, dass er sie berühren könnte, ihr Gewalt antun könnte, war nicht zu ertragen.
Carey wagte es jedoch nicht, sich ihm zu widersetzen, und sie ließ sich auf dem Boden nieder, legte sich auf die Seite, rollte sich zusammen. Dahl setzte sich neben sie, nahm ihren Kopf auf seinen Schoß und streichelte ihr über die Haare.
»Schlaf jetzt, mein Engel. Wir haben alle Zeit der Welt.«
Wofür?, fragte sie sich. Dachte er, sie würde freiwillig seine Reisebegleiterin werden? Oder dachte er, dass ihm ihre Seele für immer gehören würde, wenn sie tot war?
»Du bist jetzt bei mir. Ich hatte lange, lange Zeit keinen Engel mehr.«
»Sie hatten schon einmal einen Engel?«, fragte sie leise. »Wie hat sie geheißen?«
Er gab ihr keine Antwort. Schließlich sagte er sehr sanft: »Ich hatte einmal einen Engel.«
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Carey.
Dahl blickte ausdruckslos auf sie hinunter. »Sie ist im Himmel … wo alle Engel sind.«
57
Carey spannte jeden Muskel in ihrem Körper an, um gegen das heftige Zittern anzukämpfen, das sie erfasste. Sie schloss die Augen und tat so, als schliefe sie, während Karl Dahl ihr weiter übers Haar strich und ihr »Du bist mein Engel, mein schöner Engel« zuflüsterte, wieder und wieder und wieder.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Eine Stunde, die ihr wie eine Minute vorkam. Eine Minute, die ihr wie eine Stunde vorkam.
Antworten auf die Frage, wer sein letzter Engel gewesen war, gingen ihr durch den Kopf, eine schlimmer als die andere. Männer wie Karl kamen nicht aus einer liebevollen Familie mit fürsorglichen Eltern. Sie hatten eine unglückliche Kindheit hinter sich. Ein abwesender oder prügelnder Vater. Eine Mutter, die entweder dem Kind für alles die Schuld gab, was in ihrem Leben schieflief, oder sich an das Kind klammerte, weil ihr Ehemann gewalttätig war. Das Kind hatte gelernt, dass Gewalt Macht verlieh, und das einzige Beispiel für die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau war eine schreckliche, leidvolle Geschichte voller
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