In aller Unschuld Thriller
Hass und Selbstverachtung.
Manche Leute hatten Mitleid mit Leuten wie Karl Dahl. Sie hatte Mitleid mit dem Kind Karl, aber eine traurige Geschichte war kein Freibrief, Morde zu begehen. Carey kannte jede Menge Leute mit einem ähnlichen Hintergrund – Polizisten, Anwälte, Sozialarbeiter – , Leute, die eine Kindheit wie Karl Dahl durchgemacht hatten, sich jedoch weiterentwickelt hatten, statt aufzugeben.
Allerdings war sie im tiefsten Inneren immer noch Staatsanwältin, und Staatsanwälte neigten dazu, in den Kategorien Schwarz und Weiß zu denken. Gut oder schlecht. Unschuldig oder schuldig.
Von ihr als Richterin erwartete man dagegen, dass sie unvoreingenommen war.
Sie fragte sich, wer Karl Dahls letzter Engel gewesen sein mochte und was der Frau widerfahren war. Betrachtete er seine Mutter als seinen Engel, und sie war an Altersschwäche oder an einer Krankheit oder durch die Hand eines brutalen Ehemannes gestorben? War seine Jugendliebe sein Engel gewesen? Oder sein erstes Opfer? Oder sein letztes Opfer?
Marlene war freundlich zu ihm gewesen, hatte ihm Arbeit angeboten, ihm etwas zu essen gegeben. Er hatte ihr ihre Güte mit Grauen vergolten. Karl Dahl war kein Mann, zu dem ein Happyend passte.
Sie hatte genug Erfahrung mit Gewaltverbrechen, um sich auszumalen, was mit ihr geschehen würde, falls es ihr nicht gelang zu fliehen. Karl würde seine kleinen Phantasien über Liebe und Fürsorge für sie ausleben, aber irgendwann würde er dessen überdrüssig werden oder den Drang verspüren weiterzuziehen. Oder sie würde etwas tun, das ihn ärgerte, und dieser Ärger würde in Wut umschlagen, und in seiner Wut würde er sie töten.
Ich kann nicht zu lange an einem Ort bleiben.
Warum?
Sein Gesicht verfinsterte sich, als er auf das Messer blickte, mit dem er die Wurst geschnitten hatte …
Es ist einfach besser, immer weiterzuziehen.
Er konnte sie nicht mitnehmen. Sie würde ihn behindern und die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn lenken. Ihm würde nur eine praktische und wirksame Lösung für dieses Problem einfallen.
Carey öffnete ihre Augen einen Spalt. Sie konnte das Messer sehen, das er aus ihrem Haus gestohlen hatte. Es lag ungefähr zwei Meter weit von ihr entfernt auf dem provisorischen Tisch.
Sie spürte das eckige Gehäuse des Handys in ihrer Hosentasche.
Dahl rückte ein Stück von ihr weg und bettete ihren Kopf auf eines der Kissen. Er sprach in sanften Flüstertönen zu ihr, als glaubte er, dass sie ihn im Schlaf hören könnte.
»Ich muss mal kurz nach draußen, um mich zu erleichtern, mein Engel. Tut mir leid, aber ich muss sichergehen, dass du nicht versuchst, mich zu verlassen.«
Carey blieb reglos liegen, als er zu ihren Füßen ging. Er legte ihr eine Fußfessel an, indem er ihr zuerst einen Kabelbinder um den einen Knöchel schlang und dann einen zweiten Kabelbinder um den anderen und diesen durch den ersten zog. Mit ein paar weiteren Kabelbindern befestigte er die Fußfessel an einem Betonblock. Sie würde wahrscheinlich nicht einmal aufstehen können, geschweige denn wegrennen.
Sie hörte, wie er durch den Raum ging, und dann hörte sie nichts mehr. Sie zählte bis zwanzig, sie hatte Angst, dass er noch in der Tür stehen und sie beobachten könnte, wenn sie die Augen öffnete, aber er war weg.
Am ganzen Leib zitternd und bebend setzte Carey sich auf, holte das Handy aus ihrer Hosentasche und schaltete es ein. Sie presste es an ihre Brust, um die leise Melodie zu dämpfen, die dabei ertönte, und sah ängstlich auf das Display, das die Suche nach einem Netz anzeigte.
»Komm schon, komm schon«, wisperte sie. Sie zitterte so heftig, dass sie befürchtete, sie könnte das Ding fallen lassen.
Auf der Netzanzeige erschien ein Balken, gleich darauf ein zweiter. Die Batterieanzeige in der rechten unteren Ecke ließ erkennen, dass der Akku fast leer war.
»Komm schon, komm schon …«
Ein dritter Balken erschien und schließlich der Name des Betreibers am oberen Rand. Sie hatte ein Netz.
Carey drückte Kovacs Nummer und hörte den Rufton am anderen Ende.
»Komm schon, Sam …«
58
»Es gibt da eine Blockhütte an einem der kleinen Seen bei Minnetonka«, sagte Elwood. »Sie gehört einem gewissen Walter Dempsey. In der Personalakte von Stan, die vor ein paar Jahren angelegt wurde, wird ein Walter Dempsey erwähnt.«
»Hast du die örtliche Polizei angerufen?«, fragte Kovac.
»Sie schicken drei Streifenwagen hin, um die Stelle abzuriegeln und Dempsey festzunehmen, falls er
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