In aller Unschuld Thriller
ausgeschaltet, um nicht gestört zu werden. Seine Mailbox enthielt zwölf neue Nachrichten. Er begann sie abzuhören und löschte die meisten davon, bevor sie zu Ende waren. Reporter, Reporter, Reporter. Es war ihm ein Rätsel, wie sie es immer wieder schafften, an seine Nummer zu kommen. Er änderte sie nach jedem großen Fall, und trotzdem bekamen sie sie jedes Mal wieder heraus.
Die PR-Frau aus dem Büro des Chefs hatte angerufen, um ihm mitzuteilen, was er anzuziehen hatte, solange die Welt ihre Kameras auf sein Dezernat gerichtet hielt.
Nicht vergessen: Auto verkaufen. Armani-Anzug kaufen.
Lieber Himmel.
» Sam, ich bin's, Carey.«
Die letzte Nachricht. Kovac setzte sich auf. Cabo rückte in den Hintergrund.
»Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen geht.«
Sie klang müde und traurig.
»Ich habe es in den Nachrichten gesehen … Immer wenn ich denke, es kann nicht mehr schlimmer werden, wird es das. Jedenfalls … ich bin zu Hause«, sagte sie. »Und ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Sind Sie sicher, dass es nicht doch irgendwo einen Ratgeber mit dem Titel Opfer für Dummies gibt?«
Sie versuchte zu lachen, es klang jedoch kläglich.
Er spielte die Nachricht dreimal ab.
Nur um ihre Stimme zu hören.
69
Es war merkwürdig, in diesem Haus zu sein. David war weg. Anka war weg. Carey empfand ihre Abwesenheit, lauschte auf die Stille, die dort herrschte, wo man ihre Stimmen hätte hören sollen. Allein mit Lucy im Haus zu sein vermittelte ihr ein Gefühl, als wären sie die beiden letzten Menschen auf der Welt.
Sie würde es nicht über sich bringen, in ihrem Bett zu schlafen, dem Bett, aus dem Karl Dahl sie mitten in der Nacht gezerrt hatte, dem Bett, das sie mit einem Mann geteilt hatte, den sie nicht kannte. Lucy würde ebenfalls nicht in ihrem Bett schlafen wollen. Sie hatte sich wie eine Schlingpflanze an Carey geklammert, nachdem Kate sie zu Hause abgeliefert hatte.
Carey hatte Kissen und Decken ins Wohnzimmer gebracht. Lucy machte es Spaß, so zu tun, als würde sie woanders übernachten oder zelten. So zu tun als ob, das schien auch Carey gar keine so üble Idee zu sein.
Ihre Tochter hatte noch immer nicht darüber gesprochen, was sie in jener Nacht gesehen hatte. Für gewöhnlich ein richtiges kleines Plappermaul, hatte Lucy überhaupt nicht viel gesprochen. Kate hatte gesagt, Carey solle sich deswegen keine Sorgen machen, aber sie machte sich trotzdem welche.
Carey wusste, wie sich das, was geschehen war, auf ihr eigenes Leben auswirken würde, sie dazu veranlassen würde, manche Dinge anders zu sehen, ihre Gefühle beeinflussen würde. Ihre Vorstellung von Sicherheit und Geborgenheit war gründlich erschüttert. So vieles in ihrem Leben, an das sie einst fest geglaubt hatte, hatte sich vor ihren Augen in Luft aufgelöst.
Wenn es ihr schon so ging, wie hilflos musste sich dann erst ein Kind fühlen.
Hinzu kam noch, dass Lucy sowieso schon verstört war, weil ihr Vater nicht da war und sie nicht verstand, warum.
Carey fragte sich, wie sie ihr das erklären sollte. Daddy wohnt nicht mehr hier, weil er zu Prostituierten geht. Daddy wohnt nicht mehr hier, weil er heimlich Pornofilme dreht.
Was sollte sie sagen? Und wie sollte es ein kleines Mädchen verstehen, das nichts weiter wollte, als dass Mommy und Daddy da waren und sie sich sicher und geborgen fühlte?
Lucy schlief jetzt, mit dem Daumen im Mund unter einer Decke auf dem Sofa im Wohnzimmer zusammengerollt. Sie hatte seit zwei Jahren nicht mehr am Daumen gelutscht.
Carey strich ihrer Tochter über die dunklen Haare und hoffte, dass sie etwas Schönes träumte.
Ruhelos ging sie zu der Fensterbank, die zum Vorgarten hinaussah, setzte sich und zog die Beine unter sich. Vor dem Haus stand immer noch ein Streifenwagen zur Beobachtung.
Die Polizei konnte ihr diese Form von Sonderbehandlung nicht lange gewähren. Obwohl sie wusste, dass die drei Menschen, die sie zu Recht fürchten musste – Karl Dahl, Stan Dempsey und Bobby Haas – , nie mehr eine Bedrohung für sie darstellen würden, hatte sie nach wie vor Angst. Sie fühlte sich ausgeliefert. Alle Welt wusste jetzt, wo sie wohnte. Man hatte ihr ihre Privatsphäre genommen.
Vielleicht würde sie das Haus verkaufen. Hier waren zu viele unschöne Dinge geschehen. Die guten Erinnerungen waren von den schlechten verdrängt worden. Vermutlich war es am besten, einen Neuanfang zu machen. Sie sehnte sich nach Anonymität. Sie wollte nicht die Nachrichten einschalten
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