In aller Unschuld Thriller
sich. Dann stützte sie die Stirn in die Hand und seufzte. »Die Opferrolle fällt mir schwer«, gab sie zu. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, was ich empfinden soll, was ich denken soll, was ich tun und nicht tun soll. Ich kann es einfach immer noch nicht fassen, dass mir so etwas passiert ist.«
Eine Träne löste sich von ihren Wimpern und lief über ihre Wange. Sie wischte sie mit ihrem aufgeschürften Knöchel weg. »Ich weiß nur, wie man kämpft. In die Offensive geht. Den Gegner zu einer Reaktion zwingt.«
»Das ist ja auch gut«, sagte Kovac. Er fragte sich, ob es ihr deshalb so schwerfiel zu akzeptieren, dass sie zum Opfer geworden war, weil sie niemanden hatte, der sie auffing, niemanden, der für sie in die Offensive ging.
»Für das, was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, gibt es keinen günstigen Zeitpunkt, deshalb kann ich es auch gleich hinter mich bringen«, sagte Kovac. »Karl Dahl ist heute Abend aus der Untersuchungshaft geflohen.«
Carey Moore starrte ihn so lange an, ohne einen Laut hervorzubringen, dass sich Kovac zu fragen begann, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Kopfverletzungen konnten seltsame Folgen nach sich ziehen.
Schließlich sagte sie: »Geflohen? Was meinen Sie damit, er ist geflohen? Wie konnte das passieren?«
»Es kam im Gefängnis zu einem Kampf. Die Situation geriet außer Kontrolle. Einige Gefangene und Wärter mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Und dort hat irgendjemand Mist gebaut. Hat vergessen, Dahl an die Trage zu fesseln. Er ist einfach aufgestanden und abgehauen, als niemand hingesehen hat.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief sie mit derselben ungläubigen Wut, die jeder Polizist in der Stadt empfand.
Ein dreifacher Mörder lief frei herum, nur weil irgendein Idiot in Uniform versagt hatte. Kovac wusste aus Erfahrung, dass es im Grunde keine Rolle spielte, wer dieser Idiot war und für welche Behörde er arbeitete. Jeder einzelne Polizist, jeder Deputy in der Stadt würde deswegen den Zorn der Medien, der Öffentlichkeit und seiner Vorgesetzten abbekommen.
»Die Medienleute werden sich die Hände reiben«, sagte Kovac mit seinem üblichen Sarkasmus. »Jetzt gibt es gleich zwei Behörden, über die sie herfallen können.«
Carey Moore schloss die Augen, aber das brachte ihre Gedanken auch nicht zum Stillstand. »Hat schon jemand Wayne Haas davon in Kenntnis gesetzt?«
»Ja, das Vergnügen hatte ich.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Dreimal dürfen Sie raten.«
Sie erwiderte nichts.
Während sie in dem elegant eingerichteten Arbeitszimmer saßen, war es im übrigen Haus so still, dass das Geräusch des Schlüssels, mit dem die Haustür geöffnet wurde, so laut wie ein Pistolenschuss klang. Kovac konnte von seinem Platz aus die Eingangstür sehen. Er erhob sich aus seinem Sessel, alle Sinne angespannt, und wartete, erfüllt von einer seltsamen Mischung aus Neugier und Wut.
David Moore trat ein, die Krawatte gelockert, der Hemdkragen offen. Nach landläufiger Meinung sah er wahrscheinlich nicht schlecht aus, dachte Kovac. Mittelgroß, die dunkelblonden Haare streng gescheitelt. Früher musste er mal recht sportlich gewesen sein, aber er begann, aus dem Leim zu gehen, und sein etwas teigiges Gesicht und der Nacken verrieten eine Neigung zum bequemen Leben. Er trug einen zerknitterten braunen Anzug und einen bockigen Ausdruck im Gesicht.
Kurzum, dachte Kovac: ein Arschloch.
Kovac fasste eine tiefe Abneigung gegen Carey Moores Ehemann, bevor dieser auch nur den Mund aufmachte.
»Carey? Was ist hier los?«, fragte der Ehemann und kam ins Arbeitszimmer. »Was ist denn mit dir passiert?«
Das sagte er nicht mit zärtlicher Besorgnis, sondern fast so, als sei er beleidigt, dass sie so aussah, wie sie aussah.
»Man hat mich im Parkhaus zusammengeschlagen.«
»O Gott!«
»Ihre Frau wurde überfallen, Mr. Moore«, sagte Kovac. »Wir vermuten, dass es ein Mordversuch war.«
David Moore stand wie angewurzelt da und drehte nur den Kopf von seiner Frau zu Kovac. »Wer sind Sie?«
Kovac zeigte ihm seine Marke. »Detective Kovac. Morddezernat.«
»Mord?«
»Wir ermitteln auch bei tätlichen Angriffen. Tätliche Angriffe sind die Morde von morgen«, sagte er mit einer Andeutung von Sarkasmus, die David Moore nicht verstehen konnte. Es war ein Insider-Witz. Man konnte nämlich leicht den Eindruck bekommen, dass sich das Dezernat lieber mit solchen tätlichen Angriffen beschäftigte, weil es mehr von ihnen gab und ihre
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