In aller Unschuld Thriller
stand neben der kleinen Laderampe hinter der Polsterei. Er machte den Eindruck, als habe er sich hierher zum Sterben zurückgezogen. Ein Reifen war vollkommen platt. Die Antenne bestand aus einem zurechtgebogenen Drahtkleiderbügel.
Dahl trat hinter den Laster und pinkelte an ein Vorderrad, dann drehte er den Seitenspiegel und musterte sein Gesicht. Seine Augen waren blutunterlaufen, etliche Äderchen mussten geplatzt sein, als ihm während des Kampfes die Luft abgeschnürt worden war. Sein Gesicht zierten ein paar Schwellungen und Blutergüsse, seine Lippe war aufgeplatzt und blutverkrustet. Ihm starrte ein völlig Fremder entgegen. Etwas Besseres konnte sich Dahl in seiner gegenwärtigen Lage gar nicht wünschen.
Strähne für Strähne steckte er die Haare, die er dem Toten abgeschnitten hatte, unter die Wollmütze, ließ die Enden in die Stirn und über die Schläfen hängen und vervollkommnete damit seine Maskerade.
Den Einkaufswagen vor sich herschiebend, ging Karl die Gasse entlang und durchwühlte auf dem Weg die Abfälle. Irgendein Arbeiter hatte auf einer Gemüsekiste hinter dem Restaurant eine halbe Flasche Bier stehen lassen. Karl nahm einen Schluck, dann zog er sich an dem Müllcontainer hoch, in dem er sich gestern Abend versteckt hatte, und fischte einen Kotelettknochen heraus, an dem noch etwas Fleisch hing, und ein Stück Leber, das mittlerweile zäh wie eine Schuhsohle war. Er grub seine Zähne in das kalte, fette Fleisch des Koteletts.
»Hey! Finger weg von meinem Abfall!«
Ein untersetzter Mann mit einer dreckigen Schürze und einem noch dreckigeren weißen Unterhemd trat aus der Hintertür des Restaurants. Er trug eine schmuddelige weiße Mütze auf dem Kopf und eine Menge blauer Tätowierungen an den muskulösen Unterarmen.
»Hau ab, du Penner! Mach, dass du wegkommst mit deinem Ungeziefer!«
Dahl warf den Kotelettknochen in seine Richtung, drehte sich um und lief, den ratternden Einkaufswagen auf dem mit Schlaglöchern übersäten Asphalt vor sich herschiebend, davon. Am Ende der Gasse angekommen, bog er um die Ecke, lief den Häuserblock entlang, stellte den Einkaufswagen vor einem Fenster des Restaurants so ab, dass er ihn im Blick behalten konnte, und betrat das Lokal durch die Eingangstür.
Eine dicke Frau mit kohlrabenschwarzem Haar, das sie zu einem Knoten geschlungen hatte, und einem Gesicht wie eine alte Indianerin trat hinter der Theke hervor und wedelte mit einem feuchten Lappen.
»Hey, du! Raus hier!«, rief sie. Sie sprach mit Akzent, wahrscheinlich Griechisch, dachte er.
Dahl zog einen Zwanziger aus seiner Manteltasche und hielt ihn ihr hin. Das erste Mal, seit er gewürgt worden war, versuchte er zu sprechen. Seine Stimme war so rau wie ein Reibeisen, und seine Stimmbänder taten höllisch weh.
»Ich hab Geld«, sagte er. »Ich will nur eine Tasse Kaffee und vielleicht ein paar Eier. Ich hab Geld. Bitte, Ma'am.«
Die Frau blieb in drei Metern Entfernung vor ihm stehen und schüttelte unwirsch den Kopf.
»Ich bin doch nur ein armer Kerl, Ma'am«, sagte er. »Ich tu bestimmt nichts Böses. Sie können auch den ganzen Zwanziger haben, wenn es darum geht. Ich möchte nur was Richtiges zum Essen haben. Ich krieg nicht oft was, was nicht zuerst ein anderer weggeschmissen hat.«
Sie starrte ihn noch immer finster an, die Arme unter ihrem mächtigen Busen verschränkt. »Du kriegst hier nichts zu essen. Du vertreibst mir nur meine Gäste.«
Nirgends waren irgendwelche Gäste zu sehen.
»Bitte, Ma'am. Nur eine Tasse Kaffee. Ein Brötchen. Irgendwas …«
Die Frau sah ihn ungerührt an, aber immerhin hatte sie bei seinem Anblick nicht zu schreien begonnen, was Karl als gutes Zeichen wertete.
»Haben Sie doch bitte die Freundlichkeit, Ma'am«, sagte er mit sanfter Stimme. »Der Herr liebt all jene, die sich der Armen und Ausgestoßenen annehmen.«
Das rief nur ein Schnauben bei der Kellnerin hervor, und dann drehte sie sich auf dem Absatz ihrer Gesundheitsschuhe um und marschierte davon.
Dahl fragte sich, ob sie in die Küche ging und dem dicken Koch auftrug, ihn zu verjagen. Bis es so weit war, konnte er in dem Fernseher, der oberhalb der Theke an die Wand montiert war, wenigstens die Nachrichten anschauen.
Er war die Nachricht des Tages. Seine Flucht, die Suche nach ihm, die Warnung, sich ihm nicht zu nähern, sondern die Polizei zu rufen, wenn man glaubte, ihn gesehen zu haben. Er war eine Art Star, dachte er mit Wohlgefallen. Es war ihm in seinem Leben noch nicht oft
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