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In allertiefster Wälder Nacht

In allertiefster Wälder Nacht

Titel: In allertiefster Wälder Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy McNamara
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mich an, so als wollte er mich herausfordern, wegzugucken. Fährt sich mit der Hand durchs Haar. Er gewinnt. Ich senke den Blick auf seinen Teller, auf dem die Muscheln dampfen, butterig, unberührt.
    »Dann bin ich richtig krank geworden und alles ging den Bach runter. Ich hab mit Susanna Schluss gemacht, meiner Freundin, hab die Uni geschmissen und bin hier raufgekommen. Mein Dad hat diese Praktikumsstelle für mich klargemacht, während ich mich orientiere … einen anderen Kurs einschlage.«
    Er schaut sich im Restaurant um, als sei das der letzte Ort, an dem er sein will.
    Ganz plötzlich empfinde ich Mitgefühl für ihn. Ich will nicht, dass er so ein Gesicht machen muss, so traurig, wütend.
    »Du bist also nicht die Einzige, die ein Leben hinter sich gelassen hat«, sagt er leise.
    Ich gucke mein Essen an, weiß nicht recht, ob ich noch was runterkriegen kann.
    »Diesen Blick kenne ich.« Er lacht bitter.
    Ich ziehe die Augenbrauen hoch, versuche, mich zusammenzureißen.
    »Was für einen Blick?«, frage ich in einem Ton, der so heiter und falsch klingt, wie er sich anfühlt.
    Er sieht enttäuscht aus.
    »Susanna hatte ihn … so ein bestimmtes Gesicht, das Leute machen, wenn man darüber redet, dass man krank ist.«
    »Es ist nur …«
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Lügen werde ich nicht.
    »Deine Mutter ist dran gestorben?«
    Hab noch nie um den heißen Brei herumreden können.
    »Gewissermaßen.« Er atmet aus, als ob er die Luft angehalten hätte.
    Ich schließe die Augen. Ich will das nicht hören. Nichts davon. Diese plötzliche Schwere, zu wissen, was sterben bedeutet.
    Patrick da im Auto zu sehen, neben mir, aber doch nicht da, überhaupt nicht.
    Ich bin gefangen. Augen auf: Cal. Augen zu: Patrick. Ich möchte nicht noch einen Menschen kennen, der sterben könnte.
    »Meine Mom ist nach der Geburt meines kleinen Bruders krank geworden. Als ich in der zweiten Klasse war, hat mein Dad sie in ein Pflegeheim ziehen lassen. Sie ist gestorben, als ich neun war. Lungenentzündung. Es war eine enorme Erleichterung, was es noch schlimmer gemacht hat. Für alle. Für meinen Vater.«
    Das muss aufhören. Mehr kann ich mir nicht anhören. Keine hässlichen Worte mehr, keine schrecklichen Einzelheiten. Ich weiß, dass ich jetzt diesen Blick habe. Ich versuche nicht, ihn zu verstecken. Kann ich nicht. Ich hasse die Welt, all die zerbrechlichen Leute darin, jeden Einzelnen von uns. Ich war so behütet. Das sehe ich jetzt, nachdem ich ausgestoßen worden bin, entlassen wurde in die richtige Welt … die wahre.
    » MS verläuft nicht bei jedem gleich«, sagt er, schaut mich an. Fast eine Herausforderung. Dann guckt er weg.
    Mit dem Finger male ich eine Acht auf mein beschlagenes Glas. Immer wieder. Ich will hier raus. Ich hab das Gefühl, getestet zu werden. Das Leben schikaniert mich. Guckt mal, was ich aushalten kann. Wie viel. Blöd von mir, dass ich ausgegangen bin. Das hier war ein riesiger Fehler. Wenn ich es nicht für die allergrößte Gemeinheit halten würde, würde ich abhauen, nach Hause rennen.
    Langes Schweigen.
    Er räuspert sich.
    »Meine ist anders. Kommt und geht. Mir geht’s schlecht, ich krieg Medikamente, dann wird es besser, irgendwie, meistens. Keine Ahnung. Ist seltsam.«
    Er schüttelt den Kopf, als ob er so reinen Tisch machen könnte. »Gott, ist das deprimierend. Sorry.« Er will sich ganz locker geben, spießt eine Muschel auf die Gabel.
    Ich schiebe Essen auf dem Teller herum. Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte. Das ist ein endloses Abendessen. Ich kann ihn nicht ansehen.
    »Ich wollte mich mit dir treffen, dich rausholen aus den Wäldern und ins Licht bringen.« Er zeigt auf die funzelige kleine Kerze zwischen uns.
    Ich könnte mich übergeben. Stattdessen nehme ich meine Gabel und zwinge mich zu essen. Das Essen bleibt mir im Hals kleben. Eine Sekunde lang schließe ich die Augen. Versuche zu verstehen, wie das hier mein Leben sein kann. Mir ist, als wäre ich im letzten Mai auf den falschen Stein getreten und in diese miese Anderswelt gerutscht. Einen Ort, an dem die Einsätze höher sind, als man je für möglich gehalten hat, und die Leute mit Dingen dieser Art fertig werden. Unfälle. Krankheit. Tod. Verlust. Lasten, die ich kaum schultern kann. Ich beiße mir in die Wange, damit ich härter werde.
    »Ich bin dran mit fragen«, sagt er.
    Ich zwinge mich, wieder hochzuschauen. Er versucht, die Düsternis zu vertreiben, die sich zwischen uns über den Tisch gelegt

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