In allertiefster Wälder Nacht
wieder zu ihm zurückzuholen.
»Aber ich bin krank und du bist jung.«
»So jung nun auch wieder nicht«, sage ich und klinge dabei natürlich genau so.
Er legt die Hand auf meine Brust, über mein Herz.
Das ist es. Ich weiß es. Das ist der Augenblick, in dem man nachgibt, ein bisschen lebt. Hoffentlich kann ich das.
»Du bist gerade mit der Schule fertig und mit deinen eigenen Sachen beschäftigt … kein Druck.«
Ich lehne mich an ihn.
Er nimmt meine Hände, küsst die Handflächen, lacht. »Ich bin so froh, dass irgendwas unsere kleine Stumme kuriert hat.«
Ich hau ihm auf den Arm.
»Ist das komisch.«
»Ernsthaft. Du redest. Das ist toll. Mary hat gesagt, dein Dad würde durchdrehen.«
Mein Dad.
Wir gucken aus dem Fenster.
»Schöner Schneeengel«, sagt er.
Ich werde rot.
»Und dein Fahrrad ist weg.«
Ich muss das Thema wechseln.
»Also, was war los … bei Dr. Williams?«
Er ballt die Fäuste ein paar Mal.
»Meine Hände und Füße fühlen sich komisch an, wie eingeschlafen. Und mein Gleichgewicht hat sich verschlechtert. Dr. Williams hat mich eingewiesen, mir ein paar Tage lang irgendein Medikament verabreicht.« Er seufzt. »Es wird besser.«
»Ja? Wird es das? Wird es besser werden?«
Die Gretchenfrage. Die, um die höfliche Menschen einen Bogen machen, über die sie hinweggehen.
Er rückt ein wenig von mir ab.
»Nicht so, wie du meinst. Aber es kommt und geht, und es ist schlimmer, wenn es kommt.«
Ich guck wieder aus dem Fenster, das jetzt im Wesentlichen ein Spiegel ist, der uns beide zeigt, klein auf der Couch, mit noch mehr schrecklichen Fragen, ungestellt, unbeantwortet wie ein Keil zwischen uns. Aber draußen ist der Mond herausgekommen, der wie ein Suchscheinwerfer sein Licht über alles ergießt. Durch die Scheibe kann man ihn immer noch sehen.
Cal fährt sich mit der Hand durch die Haare, streicht sie zurück. Sie fallen wieder nach vorn. Er hat diesen entrückten Blick, den man bekommt, wenn man etwas noch einmal Revue passieren lässt. Diesen Blick, in dem ich seit Mai festhänge. Er blinzelt ein wenig, dreht sich wieder zu mir, bringt mich wieder in den Fokus.
»Hey – jetzt gerade – bedeutet das nichts. Muss es nicht, meine ich, es muss nicht seltsam sein. Ich versteh das, Wren. In dir geht eine Menge vor.«
Ich will, dass er aufhört, mich so anzusehen, aufhört, sich von mir zurückzuziehen. Ich nehme seine Hand und lege sie wieder auf mein Herz, halte sie da fest. Er fühlt sich vertraut an. Richtig.
»Dann machst du dieses Jahr also deinen Abschluss?«
Er schaut seine Hand an. Zieht sie weg. Schüttelt den Kopf.
»Nein. Der Kurs geht über fünf Jahre. Ich war im dritten Jahr, im Designatelier, hab die Nächte durchgemacht. Meine Füße blieben auf einmal an Bordsteinkanten hängen, erwischten die Stufen nicht mehr richtig. Susanna war diejenige, die der Sache nachgegangen ist. Sie hat sich irre gemacht mit dem Internet. Sie wusste von meiner Mom. Eines Morgens wachte ich krank auf, und sie hat die Panik gekriegt, hat meinen Dad angerufen.«
»Susanna ist deine Freundin?«
Ein kleines Lächeln. »War.«
Ich streiche mit den Fingerspitzen über seine Augenbrauen. Er schließt die Augen. Ich möchte die Schatten von seinem Gesicht küssen.
Er rückt wieder von mir ab. Guckt aus dem Fenster.
»Wir waren gerade beim Dachausbau eines Gemeindezentrums in den Sozialbausiedlungen. Ein grüner Platz mitten zwischen diesen anonymen Türmen voller Leute, die wahrscheinlich lieber woanders wohnen würden. Wir haben viel Aufmerksamkeit für die Arbeit bekommen, und das Angebot für einen internationalen Austausch, Arbeit an einem Projekt in Barcelona.«
»Aber du bist nicht hingegangen.«
Er schüttelt den Kopf, wippt mit dem Knie, hört wieder auf damit.
»Ich hab Cornell verlassen. Als der Verdacht bestätigt wurde, konnte ich nicht damit umgehen. Susanna ist allein nach Barcelona gegangen. Michael ist gekommen«, er zeigt auf das Foto von ihm und seinem Bruder, »und wir haben den Sommer in New York verbracht, sind ausgegangen, haben Mädchen abgeschleppt, unseren Kater ausgeschlafen und wieder von vorn angefangen. Ich war ein Arschloch, wütend und krank.«
Komisch, die Vorstellung, dass Cal in der Stadt, meiner Stadt, einen draufgemacht hat, den ganzen Sommer lang, während ich mit dem Gesicht zur Wand im Bett gelegen habe. Den Brief auf dem Tisch erwähne ich nicht. Er wird ihn finden, wenn ich nicht hier bin.
»Möchtest du was trinken?«, fragt er
Weitere Kostenlose Bücher