In allertiefster Wälder Nacht
Soll mir recht sein. Meine Stimme ist irgendwie kratzig, unzuverlässig. Ich werfe das Handy auf die Couch. Zeit für die Dusche und laute Musik.
Der Raum nimmt Gestalt an
Er ruft nicht zurück. Die Zeit scheint es wieder mit mir aufgenommen zu haben und der Nachmittag ist endlos. Weiß nichts mit mir anzufangen. Also geh ich zu ihm. Tapferkeitsanfall.
Keiner kommt an die Tür. Auf dem Weg hierher hab ich im Auto mal wieder meine Stimme ausprobiert. Klingt seltsam, als hätte ich Laryngitis, aber sie ist da. In der Garage versuche ich noch einmal, ihn auf dem Handy zu erreichen. Mailbox. Ich klettere wieder in den Jeep, um den Zettel mit seinem Sicherheitscode wo auch immer hervorzusuchen. Er liegt zwischen den Sitzen auf dem Boden. Ich mache mir die Tür auf. Das Haus ist still.
»Cal?«, rufe ich mit brüchiger Stimme.
Keine Antwort.
Das hier ist praktisch Einbruch. Okay. Einbruch vielleicht weniger, Hausfriedensbruch aber ganz bestimmt. Ungebeten allemal. Langsam hat das was Irres, hierherzukommen. Mary und ihre ausgeflippten Ideen. Sie ist schlimmer als Meredith. Ich setze mich kurz auf die Bank, um Atem zu holen. Ich weiß nicht mehr, was ich tue, überhaupt nicht.
»Hallo?«
Nichts.
Von der Bank aus schaue ich mich um. Hier herrscht Chaos. Und es fällt auf, anders als im Haus von meinem Dad, wo Chaos eine alltägliche Erscheinung ist. Cals Jacke liegt neben der Tür auf dem Boden und auf dem Couchtisch sehe ich schmutziges Geschirr. Genauer gesagt, überall steht Geschirr. Anscheinend hat er tagelang nicht abgewaschen.
Ich hänge meine Jacke auf und seine, schlüpfe aus meinen Stiefeln. Wahrscheinlich ist er mit jemandem unterwegs, sage ich mir. Aber wenn nicht? Beunruhigende Bilder entstehen. Wenn er nun hier ist … krank, Hilfe braucht? Mein Magen hat sich zugeschnürt. Ich gehe durchs Haus, suche ihn.
»Cal?«
Das Arbeitszimmer ist auch unaufgeräumt. Überall Bücher, einige liegen aufgeschlagen auf dem Tisch, ausgebreitete Bauzeichnungen. Kein Cal.
Ich gehe nach hinten zu seinem Zimmer. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Ich klopfe leicht. Keine Antwort. Ein kleiner Schubs, ich trete ein. Ich kann nicht gucken. Mein Herz sitzt in den Ohren. Zwar glaube ich nicht, dass bei MS ein plötzlicher Tod eintritt, aber sicher bin auch nicht. Bitte, sei nicht tot , sage ich. Ein kleines Gebet.
Ich schaue. Er ist da. Auf dem Bett, mit dem Gesicht nach unten, den Kopf unter einem Kissen. Ich erstarre, beobachte so genau, ob er noch atmet, dass mir die Augen wehtun. Dann regt er sich ein wenig, bewegt sich. Die Knie geben beinahe unter mir nach. Natürlich schläft er. Was ist nur los mit mir? Mary hat’s doch gesagt. Er braucht Schlaf. So leise ich kann, verlasse ich den Raum, meine Socken machen kein Geräusch auf dem Holzboden. Ich ziehe die Tür zu und renne förmlich zurück ins Wohnzimmer. So erleichtert, dass mich das Gefühl beschwingt. Ist seltsam. Ich werde aufräumen. Er wird in einem ordentlichen Haus aufwachen.
Warum ist es so leicht, ein schönes Haus sauber zu machen? Die Oberflächen in der Küche glänzen innerhalb von Sekunden. Im Seifenwasser fühlen sich die Teller in meinen Händen schwer und warm an. Mit befriedigendem Klappern lassen sie sich aufs Regal stapeln. Ich verstehe, warum meine Mutter Ordnung so liebt. Ist beruhigend. Selbst wenn’s eine Lüge ist.
Im Arbeitszimmer ist es auch längst nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich hefte Klebezettel an die aufgeschlagenen Seiten aller Bücher und stapele sie neben seinem Computer. Ein Satz Zeichnungen trägt den Titel »Strukturen auf Landschaften von fantastischer Abgeschiedenheit«. Was für die Uni. Oder eins von seinen Praktikumsprojekten. Ich sehe mich vor mit den Zeichnungen, lege sie aufeinander.
Dann steige ich in meine Stiefel und geh raus, um den Briefkasten zu leeren. Der ist voll. Den ganzen Haufen Post lade ich auf den Esszimmertisch und sortiere auf verschiedene Haufen: Zeitschriften, Rechnungen, Werbung. Ein persönlicher Brief ist dabei, ein kleiner Umschlag aus Spanien, mit S. Braun oben in der Ecke. Wie hieß seine Freundin noch? Was hat er gesagt? Ich versuche, mich zu erinnern. Fällt mir nicht ein. Vielleicht ist der Brief von ihr. Ich lege ihn obenauf.
Nichts mehr zu tun. Ich stelle mich vor die riesigen Fenster. Mein Schneeengel ist voll Neuschnee, aber er ist immer noch da. Wenigstens einer von uns. Die Schleifspuren von meinem Rad auch und ein paar von meinen Fußspuren. Ich drehe mich um und
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