In allertiefster Wälder Nacht
plötzlich und nimmt die Krücken.
»Ich hol was.« Ich springe auf. »Was willst du haben?«
Er antwortet nicht. Ich finde Selters im Kühlschrank und bringe zwei Gläser mit, setze mich und beobachte die kleinen Bläschen, die an die Oberfläche schießen und zerplatzen, wenn sie mit der Luft in Berührung kommen.
»Also«, sagt er eine Weile später, »ist im August mein Dad gekommen, hat mir gesagt, ich solle aufhören, mich verrückt zu machen, und mich zusammenreißen. Ich sei nicht wie meine Mutter. Mein Bruder hatte mit ihm tele foniert, und wie sich herausstellte, hatte er Angst, wieder an die Uni zurückzugehen und mich allein zu lassen.« Er verzieht verlegen das Gesicht, atmet durch und fährt fort: »Mein Dad hat Freunde angerufen, Sachen auf die Reihe gebracht, das Praktikum, und hier bin ich also. Ein Jahr Pause, sagte er, irgendwo, wo der Stress nicht so groß ist.« Er schaut mich mit einem bedauernden Lächeln an. »Und du siehst ja selbst, wie sich das entwickelt.«
Ich bin mir nicht sicher, ob er mich damit meint. Wir schweigen eine Weile.
»Egal, ich muss mir überlegen, wie ich selber damit zurechtkomme. Es ging mir gerade ein bisschen besser, als ich dich umgefahren habe.« Wieder diese Bitterkeit in seiner Stimme.
»Schon in Ordnung«, sage ich leise. »Ist nichts passiert.«
»Doch, alles.« Er schließt die Augen. »Dr. Williams hatte mir gerade gesagt, dass ich nicht fahren dürfe an Tagen, an denen … wenn meine Reflexe nicht stimmten. Ich war so sauer und bin gefahren wie ein Wahnsinniger.«
Noch ein langes Schweigen.
»Wenn ich dich nun verletzt hätte?« Er stößt einen langen Atemzug aus, schaut mich an.
»Hast du nicht.«
Er zieht mich auf sich und Stirn an Stirn, Nase an Nase sitzen wir da und atmen einander.
Ein normaler Mensch
Obwohl ich erst spät nach Hause komme, klappe ich meinen Laptop noch auf. Zum ersten Mal, seit ich hierhergezogen bin.
Der einzige mir verbliebene E-Mail-Account sprengt das Fassungsvermögen. 800 Nachrichten. Hauptsächlich von Emma. Der Name von Patricks kleiner Schwester zieht sich wie eine Gänseblümchenkette durch meine Inbox. September, Oktober, November. Sieht aus, als hätte sie dieselbe Nachricht ein ums andere Mal geschickt, bis mein Postfach voll war. Mein Magen spielt verrückt.
Ich klappe den Laptop zu. Ich werde sie lesen. Aber jetzt noch nicht. Dann mache ich das Ding wieder auf und tu genau das, was Susanna getan hat. Ich recherchiere. Schön ist es nicht. Nicht alles, was ich lese, verstehe ich auch, aber es scheint unterschiedliche Typen von MS zu geben, und Cals Angaben zufolge ist sein Typ noch der beste, wenn es so was überhaupt gibt. Seine Mom hatte eindeutig den schlimmsten.
Ich gehe spät zu Bett, versuche zu vergessen, was ich gelesen habe, und schlafe schlecht. Gegen drei, nachdem ich den Patrick-Film in meinem Kopf angesehen habe, und die Schlaflosigkeit seine Gesichtzüge mit denen von Cal vermischt, stehe ich schließlich auf und nehme eine Tablette. Das Dunkel trifft mich wie ein Vorschlaghammer.
Mary weckt mich am nächsten Tag gegen Mittag.
»Lässt du die Bibliothek heute sausen?«, fragt sie, als sie den Kopf zur Tür reinsteckt.
»Scheiße!« Ich schrecke hoch, mit hämmerndem Kopf, klebrig vor Erschöpfung. Die Tablette hat mich in unbekannte Tiefen gezogen.
»Du sprichst!« Sie wippt ein wenig auf den Zehen.
Ich habe Mühe, wach zu werden. »Mit der Sonne im Rücken, so wie jetzt«, sage ich, »siehst du aus wie eine von diesen religiösen mexikanischen Kerzen. Unsere Liebe Frau des Schmerzhaft Grellen Lichtes.«
Mary lacht. Nimmt eine Heiligenpose ein, die weiten Ärmel ihres scharlachroten kimonoartigen Hemdes fallen elegant wie ein lichtdurchflutetes Dreieck.
Ich plumpse zurück ins Kissen und lege den Arm über die Augen. Jetzt werde ich Lucy Shepherd anrufen und mich entschuldigen müssen.
»Dein Telefon summt.«
Sie wirft es mir zu. Ein schneller Blick fällt aufs Tablettenglas neben meinem Bett.
Ich hab das Gefühl, vom Mittelpunkt der Erde zurückzukommen. Wieder setze ich mich auf. Mein Telefon. Verpasste Anrufe. Von Cal. Von der Bibliothek. Einer von meiner Mom.
»Rufst du Lucy an?«, bettele ich. Es ist total unangemessen, aber mein Mund lässt sich nicht stoppen, ich bettele sie an. »In der Bibliothek? Rufst du an und sagst ihr, dass ich verschlafen habe und dass es mir leid tut?« Wie bin ich doch peinlich. Aber ich ertrage den Gedanken nicht, selber anzurufen.
»Klar«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher