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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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sie auf der anderen Seite wieder festen Boden unter den Füßen hatte, atmete sie auf, doch die Erleichterung war nicht von Dauer. Vor ihr in der Steilwand öffnete sich der gähnende Schlund mit langen, feucht glänzenden Eiszähnen, die über sie herzufallen drohten.
    Sie schrak auf, als sie Thayers Stimme an ihrem Ohr hörte.
    »Ganz schön eindrucksvoll, diese Stalaktiten, was?«
    Tuttle trat zu ihnen, verzog das Gesicht.
    »Die Brücke ist noch ziemlich stabil und hat die Jahre gut überstanden«, bemerkte er.
    Thayer nickte.
    »Das ist auch gut so, falls Bob und seine Leute hier auftauchen.«
    Die drei Lampen richteten sich auf den Eingang des Tunnels. Sie traten vorsichtig ein, stiegen über die Schienen und herumliegenden Trümmer. Von den Wänden hingen Hunderte von faserigen Wurzeln herab, und nach wenigen Schritten stieg ihnen Staubgeruch in die Nase. Den anderen Ausgang konnten sie zwar nicht sehen, wohl aber an dem Luftzug erahnen.
    Plötzlich trafen die Lichtkegel auf eine kantige Masse. Zuerst erkannten sie eine verrostete Kette, dann einen Kupplungskopf und schließlich die ockerfarbenen Eisenwände eines Güterwagens.
    Irgendwo fielen Tropfen in eine Pfütze.
    Eine Seite des fensterlosen Waggons war mit einer Schiebetür versehen, die schon stark verrostet war. Er musste schon seit der Schließung der Linie hier liegen, einfach zurückgelassen, weil es zu teuer gewesen wäre, ihn abzuschleppen, oder von der Eisenbahngesellschaft schlichtweg vergessen.
    Mit klopfendem Herzen ging Annabel einmal um den ganzen Wagen herum. Sie öffnete den Verschluss ihres Halfters und zog langsam die Beretta heraus. Im Strahl ihrer Lampe nahm sie Thayers graue Augen wahr, die sie anstarrten. Eine Sekunde lang glaubte sie sogar, dass er lachte, doch das war nicht der Fall. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Tür und zog den Verschlusshebel hoch.
    Tuttle stand einen Meter hinter ihm, Annabel hob Waffe und Lampe und nickte.
    Thayer zog mit aller Kraft am Griff, und die Tür glitt leichter als erwartet zur Seite.
    Sie tauchten aus dem Nichts auf, mit den Augen des Wahnsinns und wildem Raubtiergrinsen. Nacktes Grauen zeichnete sich auf den Gesichtern von Annabel, Jack und Sam Tuttie ab.
    Sie starrten in die hässliche Fratze des Todes.

36
    Mit Einbruch der Dunkelheit fiel der Schnee in immer dichteren Flocken, und das Viertel Red Hook duckte sich in den Schutz seiner Schornsteine, Docks und Lagerhäuser. Das Gebäude, das Brolin unter die Lupe nehmen wollte, lag inmitten dieser weißen Schwaden. Die roten Ziegelsteine verschmolzen mit dem Dunst, der wie ein Perlendiadem für eine Nacht die Stadt beherrschte. Der Privatdetektiv hatte die Zeit in einer schmuddeligen Bar totgeschlagen, die höchstens ein Dutzend Stammkunden im ganzen Jahr bewirtete, und einen Pfefferminztee nach dem anderen getrunken.
    Jetzt lehnte er an dem Autowrack vor dem Lagerhaus, in dem Bob und seine teuflische Sekte zweifellos ihre Messen abgehalten hatten.
    Im Schutz des dichten Schneetreibens kletterte Brolin auf eine der Verladerampen. Tagsüber hatte er seitlich einen Zugang ausgemacht, den er vielleicht benutzen konnte.
    Diskretion war wie immer höchstes Gebot – eine leichte Aufgabe bei diesen Wetterverhältnissen. Brolin suchte nach einem Mauervorsprung, von dem aus er sich auf das weiter oben erkennbare Sims stemmen könnte. Kurz darauf befand er sich auf dem Dach über dem Kai. Der mächtige Schatten, der von den oberen Stockwerken auf ihn fiel, schützte ihn vor dem Wind. Gebückt lief er zum anderen Ende. Wie erwartet, erstreckte sich dort ein betonierter Innenhof, ebenso alt wie der Rest des Gebäudekomplexes. Der Kanal mit seinem grünlichen Wasser begrenzte den Lagerplatz. Brolin sprang auf der anderen Seite in das hohe Gras, das in den Ritzen zwischen den Platten wucherte, und suchte nach einer Tür, die er auch gleich fand. Jetzt hatte er alle Zeit dieser Welt, denn hier konnte ihn niemand entdecken.
    Mit einem Dietrich machte sich Brolin an dem Schloss zu schaffen – eine Kunst, in der er nicht eben begabt war. Bisweilen wünschte er, Houdini entstiege noch einmal seinem Grab. Dieses Mal brauchte er gute zehn Minuten, um mit seinen steifen Fingern die Eisentür zu öffnen.
    Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie hinter ihm zu, und er stand in undurchdringlichem Dunkel.
    Brolins Leuchtstift warf einen dünnen Lichtschein in den Raum, wie ein winziger weißer Strich auf einer Schiefertafel. Der glitzernde Staub tanzte in dem

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