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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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Lichtstrahl. Zu seiner Rechten stand ein hoher Stapel Holzkisten, die in der Feuchtigkeit verrotteten und zerfielen. Er machte ein paar Schritte zwischen durchgeweichten Kartons und verschiedenen Abfällen. Plötzlich ein Knarren an der Decke.
    Brolin blieb stehen, die Hand an seiner Glock.
    Wieder ein Knarren, diesmal etwas gedämpfter.
    Er hob den Kopf und sah, dass das Dach teilweise aus dickem, aber lichtdurchlässigem Kunststoff bestand.
    Das ist nur der Schnee, Idiot, das Gewicht des Schnees.
    Mit dem Gefühl, sich auf einer alten Galeone zu befinden, nahm er seinen Rundgang wieder auf – Knacken, Knarren, Kratzen und überall Feuchtigkeit. Nachdem er zwei große Räume durchsucht hatte, kam er in einen schmalen Korridor, der aus dem länglichen, flachen Lagerhaus in den höheren Teil des Gebäudes führte. In einem Winkel türmten sich Farbeimer, weiter hinten entdeckte er einen Haufen Isoliermaterial für Elektrokabel, das voller Löcher oder mit eingetrocknetem Gips überzogen war. Der Lichtstrahl war zu dünn, als dass er hätte erkennen können, was sich weiter hinten befand, denn der Raum wirkte plötzlich riesengroß.
    Geh langsam und gründlich vor, denk daran, was Dr. Folstom in Portland immer gesagt hat: »Man muss technisch arbeiten.« Mach dich frei von deinen Gefühlen, lass dich nicht entmutigen.
    Vor seinem geistigen Auge tauchte Rachel Faulets lächelndes Gesicht auf. Er kannte die junge Frau nur aus den Schilderungen der anderen und von Fotos her, doch er hoffte für ihre Familie, dass sie noch lebte, irgendwo.
    Für sie, für all die anderen. Konzentriere dich. Wo würde sich Bob einrichten? Besser gesagt, wo würde er einen Tempel zu Ehren und zum Ruhm von Caliban errichten?
    Er ging rasch noch einmal alles durch, was er über Bob und diesen Namen »Caliban« wusste. Über Letzteren herrschte noch immer Unklarheit, eine seltsame Vorstellung, fast eine Gottheit. Der lateinische Psalm war in dieser Hinsicht völlig eindeutig. Wahrscheinlich war Bob ein Egozentriker wie viele Kriminelle seiner Art, bezog alles auf sich, hielt sich für eine Art von Guru.
    Was noch?
    Er ist nicht mehr ganz jung, mindestens dreißig, und hat Leute wie Shapiro und Lynch geschickt manipuliert. Er hat keine Vorurteile hinsichtlich Rasse und Geschlecht seiner Opfer, das heißt, er tötet nicht aus sexueller Lust, zumindest nicht nur und nicht unmittelbar. Er glaubt an das, was er tut, er ist größenwahnsinnig. Er hat Caliban und das ganze Drumherum einfach erfunden. Wenn er etwas Grandioses gewollt hätte, so hätte er einem großen Raum den Vorzug gegeben, der feierlicher wirkte. Und er ist vorsichtig, hinterlässt keine Spuren, wurde nie gesehen, achtet sehr auf seine Vorgehensweise, wenn er seine Opfer entführt. Er ist intelligent, bestimmt auch leicht paranoid. Er hat sicherlich einen möglichst abgelegenen Raum gewählt, also oben.
    Der rote Ziegelbau, der zu dieser Lagerhalle gehörte, war über fünfzehn Meter hoch, also hoch genug, um andere Gebäude zu überragen, sie von oben zu beherrschen.
    Während Brolin nach einer Treppe suchte, glitten seine Gedanken in die Abgründe des Bösen, des Verbrechens. Er dachte an all das, was er gesehen, gelesen und in seinem Polizistenleben gehört hatte. Tausende Bilder verstümmelter Leichen, Großaufnahmen von klaffenden Wunden in den Autopsieberichten, entstellte Körper, denen das Leiden aus allen Poren quoll. Diese Berge offenen Fleisches vor seinen Augen, an den Tatorten oder im Leichenschauhaus. Diese Tonbänder, auf denen Mörder den langsamen Tod einer Frau oder eines Kindes aufgezeichnet hatten. Manchmal drehten diese Ungeheuer Videos: Sie zeigten Opfer, denen bewusst war, dass sie schrecklich leiden, dass sie sterben würden, und die trotzdem noch hofften, bis sie durch das eigene Blut nichts mehr erkennen konnten; sie zeigten, wie sich dann der Blick veränderte und flehte, dass all dies aufhören und der so erschreckende Tod zu Hilfe eilen möge. All das und vieles mehr.
    Er kam an einer Luftschleuse vorbei und hörte das Klirren einer Kette. Dann das entsetzliche Heulen einer Frau. In einem Flash, einem roten, weiß geäderten Bild nahm Brolin einen verzerrten Mund wahr, auf dem Kinn durch all die Schläge verschmierter Lippenstift. Das Schreien setzte sich fort, wurde lauter und unmenschlich. Nur an der Grenze zum Tod, im Reich des Leidens, ist solches Schreien möglich. Unter der dünnen rosa Haut bildeten sich purpurne Flecke. Die Mundwinkel wurden

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