Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
Vom Netzwerk:
das Sie eingezeichnet haben, müssen wir jetzt den Pfad verlassen, anders kommen wir nicht dorthin. Ich halte es aber immer noch für keine gute Idee, das Wetter wird immer schlechter.«
    Annabel legte ihm die Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
    »Es soll doch nicht alles umsonst gewesen sein, also weiter.«
    Wie Sheriff Tuttle vorausgesagt hatte, war der Rest des Aufstiegs kein Zuckerschlecken. Bei der üppigen Vegetation und dem rutschigen Boden mussten sie unzählige Kratzer und schmerzhafte Stürze hinnehmen. Und mit jedem Mal schwand ein wenig von der übrig gebliebenen Wärme, verdrängt durch die Kälte, die sich zwischen sie schob. Als Sheriff Tuttle auf halber Höhe des Hangs die Zweige auseinander bog, entdeckte er plötzlich die Öffnung, die sich wie ein Riss über mehrere, längst vergessene Kilometer entlang der Skylands in die Vegetation bohrte. Die Bresche war früher wohl vier bis fünf Meter breit gewesen, inzwischen aber hatte sich der Wald das Terrain fast zurückerobert, und diese Wunde, die ihm der einstige industrielle Fortschritt zugefügt hatte, war durch Keimlinge und Triebe nun fast vernarbt. Der Wind fing sich mit der Gewalt eines Hochgeschwindigkeitszugs in diesem Kanal. Annabel zog den Kopf in den Pelzkragen ihrer Bomberjacke und stieß mit kleinen Fußtritten den Schnee beiseite, bis sie die Bestätigung erhielt, dass sie sich an der richtigen Stelle befanden: Sie legte eine braune, rostige Schiene frei.
    »Wir sind fast da!«, rief Thayer. »Noch knapp einen Kilometer in diese Richtung.«
    Gegen den Wind gestemmt, kämpfte er sich voran. Tuttle legte seine Pumpgun über die Schulter und zog seine Schirmmütze noch tiefer in die Stirn, um sie nicht zu verlieren. Thayer wartete, bis seine Kollegin näher gekommen war, und zupfte sie am Ärmel, bevor er gegen den Wind anschrie: »Spürst du das Gebrüll der Orakel, die uns zurückdrängen? Sie wollen uns am Vorankommen hindern! Der Atem von Delphi dringt bis zu uns, Anna! Auf ihrem Dreifuß lauert Pythia auf uns!«
    Sein Lachen wurde sofort von einer Böe davongetragen. Annabel teilte seinen philosophischen Humor nicht, sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn wachsende Anspannung besonders stimulierte. Sie hatte ihn schon Verse deklamieren hören, wo andere laut gebetet hätten. So war Thayer eben.
    Früher als erwartet tauchte an dem Hang eine Blechhütte auf, verdeckt durch Schneeverwehungen und viel zu klein, um als Unterschlupf zu dienen. Sie bot kaum genug Raum, um Werkzeug darin unterzustellen. Je näher sie kamen, desto mehr entspannten sich ihre Glieder, die vorher noch von tausend Ameisen bevölkert gewesen waren.
    Als die verblassten Buchstaben auf der Seitenwand der Hütte sichtbar wurden, wussten Jack und Annabel, dass sie sich auf dem Territorium des Monsters befanden.
    JC 114.
    Dies war ganz eindeutig ein Hinweis für die Dampflokführer und die Gleisarbeiter, die für die Wartung der Schienen zuständig waren. Als sie diese Eisenbahnzeichen lasen, wussten sie, wo sie waren und wohin diese Schienen führten.
    »Wir sind da. Da vorne muss es sein, es ist nicht mehr sehr weit«, erklärte Thayer finster.
    Das Gewehr im Anschlag, ging Tuttle voran, die Taschenlampe in der anderen Hand. Bald war das Trio wie kristallisiert, das Haar glitzernd von schmelzenden Diamanten, die Gesichtshaut von Raureif überzogen, wie frühzeitig gealtert.
    Plötzlich tauchte aus dem wirbelnden Schnee zwischen zwei hohen Tannen eine Brücke auf. Die eher bescheidene Konstruktion aus Holz und Stahl überspannte einen etwa zwanzig Meter tiefen Abgrund, besaß keinerlei Geländer und bildete über dem Graben ein kleines umgekehrtes U.
    Bei dem Gedanken, über diese wurmstichige Konstruktion gehen zu müssen, wurde Annabel mulmig. Sie sah sich bereits nach einem anderen Weg um, obwohl sie genau wusste, dass es keinen geben konnte.
    Da fiel ihr Blick auf das Auge.
    Ein großes schwarzes Loch auf der anderen Seite des Stegs – der Eingang zu einem Tunnel.
    Bobs Höhle?, fragte sie sich sofort.
    Sei doch nicht blöd! Niemand kann hier oben leben!
    Sie ertasteten mit dem Fuß die Querstreben, bevor sie nacheinander die Brücke betraten. Thayer ging voraus, Tuttle bildete das Schlusslicht. Das Holz ächzte unter ihrem Gewicht, und auf halbem Weg wurde Annabel bewusst, dass sie nichts mehr ringsum unterscheiden konnte, nichts als die erdrückende Unermesslichkeit des Schneetreibens. Ihr Herz schlug verzweifelt.
    Als

Weitere Kostenlose Bücher