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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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Tief in seinem Innern aber schrillten alle Alarmglocken, denn es konnte sich auch um ein sehr gefährliches Individuum handeln.
    Brolin erreichte den Fuß der Treppe, als der andere sie gerade verließ. Augenblicke später befand er sich wieder im Erdgeschoss, in völliger Stille. Er hielt den Atem an, um besser hören zu können, und fühlte seine feuchte Handfläche an der Waffe.
    Keine Spur von dem Eindringling. Rundherum Schatten und Fluchtwege in jede Richtung. Er konnte überall sein. Da drang ein kaum vernehmbares Rascheln an sein Ohr.
    Brolin erkannte, was geschehen war, und wusste gleichzeitig, dass es zu spät war.
    Der andere stand genau hinter ihm.

DRITTER TEIL
    »Ich merke, dass ich mich auf alles konzentriere, auf die Häuser, die Zeichen der Sicherheit und Zufriedenheit, um nicht nur von meinem Plan abzulenken, sondern um mich in meinem Entschluss zu bestärken. Mir steht dieses Leben zu, nicht weniger als diesen verdammten Leuten in dieser verdammten Straße mit ihren Kurven, mit ihren Namen auf den Designerbriefkästen und rustikalen Holzschildern.«

    DONALD WESTLAKE, Der Freisteller

37
    Der Tod.
    Er offenbarte seine bleichen Zähne und leeren Augenhöhlen.
    Der Tod überall, das erwartete sie.
    Bevor er die Schiebetür des Güterwaggons aufgezogen hatte, war Thayer auf nahezu alles vorbereitet gewesen, nur nicht darauf. Annabel hatte sich gut zugeredet, hatte versucht, sich Mut zu machen. Als die Tür aufging, erstarrte jedoch auch ihr Gesicht zu einer Maske des Grauens. Sheriff Sam Tuttle wäre fast ohnmächtig geworden. Er sank auf einen Stein und blieb dort sitzen. Das konnte nicht sein.
    Sie waren alle da.
    Alle die seit zwei Jahren vermissten Menschen. Dicht gedrängt, fest zusammenhaltend in großartiger Solidarität, Arme und Beine ineinander verschlungen. Irgendwann hatten sie ihren Platz gefunden und bildeten in diesem Moment ein Gewirr von Knochen. Mit leeren Blicken starrten sie auf die Tür, fixierten den kleinen Lichtstrahl, der an diesem Ort fast mythisch wirkte. Keiner blinzelte oder wandte geblendet den Kopf zur Seite.
    Um die sechzig Skelette wohnten in dieser rostzerfressenen Behausung.
    Bleiche Knochen, verschachtelt zu einem unvorstellbaren Totenlabyrinth. Einem Irrgarten aus Knochen. Zu ihren Füßen der Eingang, der Ausgang … Es waren über sechzig, und jeder führte zu einem vergangenen Leben. Sich auf das Spiel einzulassen bedeutete, sie alle aufzudecken. Die grauen Schädel wirkten wie Fallen. Zwischen den Kieferknochen blitzten Zähne und Kronen im Schein der Lampen auf. Die Brustkörbe nahmen sich aus wie Gitter, die Wirbel wie Brücken. In dieser Nekropole herrschte ein bitterer Geruch von Grausamkeit, von zu großer Einsamkeit im Tod.

    Es dauerte zwei Stunden, bis die Verstärkung eintraf, eine endlose Wartezeit für die drei Gefährten am Eingang des Tunnels. Langsam verschwanden die Schienen unter dem Schnee, ganz so wie die Brücke, die sich in ein weiteres weißes Phantom verwandelte. Sie mussten den Neuankömmlingen Anweisungen geben, wohin sie den Fuß setzen sollten, um nicht zu straucheln. Es war völlig dunkel, als die Techniker das mitgebrachte tragbare Aggregat anschlossen. In dem Lichtkegel, der auf den Waggon fiel, tanzte feiner Schnee.
    Ein Gasheizer wurde aufgestellt, um Erfrierungen vorzubeugen, abwechselnd wärmte man sich auf, manchmal mehr die Seele als die Hände.
    Draußen fiel noch immer Schnee, und bald hatten alle den Eindruck, sich in einer geheimen Grotte hinter einem Wasserfall zu befinden. Der Leiter der Spurensicherung war Clive Fielding. Er musste zugeben, so etwas noch nie gesehen zu haben. Wörter wie Holocaust, Konzentrationslager und Shoah fielen mehrmals in den Gesprächen der sechs Anwesenden.
    Clive Fielding leitete den Einsatz mit seiner klaren Baritonstimme, kritzelte dabei ständig in sein Notizbuch. Annabel trat zu ihm.
    »Glauben Sie, dass Sie dem hier irgendwelche Informationen entnehmen können?«, fragte sie und deutete auf den Waggon und seine grauenvolle Ladung.
    Für gewöhnlich hieß es bei der Polizei: je frischer die Leiche, umso rascher die Identifizierung. Davon konnte hier natürlich keine Rede sein.
    »Ein ziemlich kompliziertes Puzzle, vor das Sie mich da stellen. Wir werden alle verfügbaren Anthropologen hinzuziehen, für Kiefer und Zähne auch Odontologen. Dann werden wir ja sehen …«
    »Und was genau können Sie uns dann sagen?«, beharrte Annabel.
    Fielding blickte von seinem Notizbuch auf und musterte

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