In Blut geschrieben
sie.
»Wir werden zuerst jeden Knochen untersuchen, um die einzelnen Skelette rekonstruieren zu können. Dabei muss die allgemeine Morphologie, die Farbe, die ultraviolette Fluoreszenz und so weiter berücksichtigt werden. Dann werden wir Größe und Gewicht jedes einzelnen Menschen und das Geschlecht durch Untersuchung des Beckens bestimmen, aber da offenbar auch Kinder darunter sind, wird das nicht so einfach sein.«
Er beugte sich zu einem kleinen Koffer und holte ein Heftchen heraus, das er der Polizistin unter die Nase hielt. Darauf stand: »Ischium-Pubis-Index«.
»Damit lassen sich genauere Ergebnisse erzielen. Bei der Berechnung des Alters richtet man sich bis fünfundzwanzig nach den Verknöcherungspunkten, obwohl häufig die Epiphysen schon vor diesem Zeitpunkt zusammengewachsen sind. Danach muss der Odontologe die Zähne untersuchen. Am Schluss können wir sogar sagen, ob sie Rechts- oder Linkshänder waren und welcher Rasse sie angehörten …«
»Sie können sogar die Rassenzugehörigkeit bestimmen?«
»Ja, mit Hilfe des Schädels. Da unser Land ein unglaubliches Völkergemisch aufweist, benutzen wir ein Computerprogramm, um alle Parameter einzubeziehen. Wissen Sie, die Gerichtsmedizin kann anhand des Skeletts alles über einen Menschen herausfinden. Dabei wird alles geprüft – Osteoporose, Schädelnähte, Zähne –, und wenn noch Bandscheiben vorhanden sind, lässt sich anhand der Aminosäuren das Alter bestimmen. Wie Sie sehen, führen wir eine ganze Reihe von Untersuchungen durch. Das Problem ist nicht, was wir alles tun können, sondern wie viel Zeit dafür nötig ist. Es kann lange dauern, sehr lange, vor allem in diesem Fall. Es sind einfach zu viele Leichen auf einmal. Sie haben wohl bislang keine große Erfahrung mit Skeletten.«
Annabel, die diese Bemerkung als Vorwurf auffasste, nickte langsam und trat einen Schritt zurück. Clive Fielding wollte sie mit einem freundschaftlichen Lächeln trösten, im Sinne von »jedem das Seine«.
»Wenn Sie gestatten, kümmere ich mich jetzt um die Fotos. Es müssen Aufnahmen vom Fundort gemacht werden, und bei den vielen Knochen habe ich vielleicht nicht genügend Filme dabei.«
Fielding warf sein Notizbuch in den Koffer und ging hinüber zu seinen Assistenten. Annabel lief rot an vor Zorn. Sie war in ihrem Fachgebiet, der technischen Untersuchung, auf ihren Platz verwiesen worden. Sie hatte viel darüber gelesen, die Kurse auf der Polizeischule waren allerdings nicht gerade ergiebig, und das ganze Gebiet mit den verschiedenen Spezialisierungen war einfach zu umfangreich. Sie entdeckte Jack Thayer, der den Boden nach Indizien absuchte. Er richtete sich auf, ihre Blicke begegneten sich, doch er zuckte nur enttäuscht mit den Schultern, er hatte nichts gefunden.
»Das wird die ganze Nacht dauern«, meinte er. »Ich leite die Ermittlungen hier, geh du nach Hause und erhole dich. Du kannst mich dann morgen ablösen.«
»Wie du willst. Tuttle muss in einer Stunde sowieso nach Montague zurück, da fahre ich mit.«
Nach einer dreiviertel Stunde winkte Fielding Annabel zu sich. Er stand in der Tür des Waggons, das Gesicht mit einer Maske geschützt, die er hochschob, da offenbar keine Vergiftungsgefahr bestand. Er reichte der jungen Frau die Hand, um ihr hinaufzuhelfen. Sie war jedoch schneller und stand mit einem Satz neben ihm.
Die Scheinwerfer erreichten nur die vorderen Leichen, was hinten oder an den Seiten lag, blieb in diesem Knochenwald im Dunkeln. Annabel trug Handschuhe und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Hier oben war die Luft wärmer, schwerer. Zum Glück entströmte der Szenerie nicht der typische Leichengeruch.
Fielding richtete den Strahl seiner Mag-Lite auf den Knochenhügel.
»Ist Ihnen an den Schädeln vorhin etwas aufgefallen?«, fragte er.
»Was denn?«
Einen Augenblick schwieg er, sie hatte also nichts gemerkt. Er machte ihr ein Zeichen, sich mit ihm hinzuknien, und wies mit dem Zeigefinger auf den nächstgelegenen Schädel. Eine dunkle Rinne lief über den ganzen Schädel.
»Die Schädeldecke wurde geöffnet.«
Annabel runzelte die Stirn.
»Wozu?«
»Keine Ahnung. Was mich jedoch noch mehr stört, ist die Tatsache, dass alle Schädel so aussehen. Alle, die hier liegen, aber das ist noch nicht alles.«
Er deutete auf den Boden.
»Vielleicht ist die Vermutung etwas gewagt, aber wenn ich mir ansehe, wie manche Knochengruppen angeordnet sind, komme ich zu dem Schluss, dass einige der Skelette schon lange hier
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