In Blut geschrieben
erste Zettel war ein Werbeprospekt. Der zweite bestand nur aus dem unteren, abgerissenen Teil eines Blattes, eine zierliche, schnörkelige Schrift war zu erkennen. Das dritte Stück Papier musste wohl im modrigen Wasser gelegen haben, denn die Schrift war völlig zerlaufen. Brolin schaute sich nun genauer an, was auf dem zweiten Papier stand. Ein Teil davon war verwischt:
»mit Lucas … Verteilung und Bob oder Malicia Bents im Hof der Wunder … der Kreis … Kenner.«
Lucas.
Lucas Shapiro, von ihm war hier die Rede, anders konnte es gar nicht sein, und das war sicher kein Zufall. Auch Bob wurde erwähnt. In diesem Raum trafen sie sich, hier war ihr Tempel. Der Tempel des Caliban. Wie waren die Strukturen? Was symbolisierte Caliban? Er musste unbedingt den Ursprung dieses Namens herausfinden. Wo hatte Bob ihn ausgegraben?
Brolin las die Worte noch einmal. Er hatte eine neue Spur, vielleicht die richtige, Malicia Bents. Dieser Zettel war Bobs Aufmerksamkeit entgangen und konnte vielleicht zu seiner Ergreifung führen. Wie hätte er aber auch vermuten können, dass seine Spur bis hierher verfolgt und eine Verbindung zu ihm hergestellt werden konnte?
Brolin steckte das wertvolle Indiz in die Tasche.
Er sah den Hund ausgestreckt an der Tür zum Flur liegen, den Kopf auf den Pfoten. Der Blick wanderte von ihm zu den fleckigen Wänden. Brolin war erstaunt über die Haltung seines Gefährten. Er hatte offenbar Angst vor diesem Raum.
»Du hast, hier was gesehen, nicht? Oder gehört … schreckliche Dinge.«
Der Hund schaute ihn mit traurigen Augen an. In diesem Blick lag die schmerzliche Enttäuschung, entdeckt zu haben, wozu die Menschen fähig sind, sagte sich Brolin. Hör bloß auf so etwas denken Hunde nicht … Aber im Grunde war er sich dessen nicht mehr ganz sicher.
Als er sich erhob, stand auch der Hund auf. Ihm fiel auf, dass sich die Gurgel des Tieres zum Schlucken hob, als hätte es Angst.
Brolin ging wieder durch das Lagerhaus, den vierbeinigen Schatten auf den Fersen. Als sie im Hof waren, wandte er sich zu ihm um.
»Tut mir Leid, hier trennen sich unsere Wege.«
Der Privatdetektiv blickte hinüber zu der Mauer, über die er klettern musste. Das war nicht schwierig.
Wieder schluckte der Hund, senkte dann den Kopf. Für einen Augenblick war Brolin überrascht, denn das Tier reagierte, als hätte es ihn verstanden.
»Ich könnte dich sowieso nicht mitnehmen, selbst wenn ich es wollte. Ich müsste dich ja bis zum Dach tragen und … Auf jeden Fall ist es nicht möglich. Verstehst du?«
Er strich ihm noch einmal über den Kopf. Der Hund trug kein Halsband, war völlig ausgemergelt, hatte bestimmt Hunger. Schüchtern leckte er über Brolins Jacke.
»Tut mir Leid«, wiederholte der Privatdetektiv und ging.
Durch die Handschuhe fühlte er die Ziegelmauer, wollte sich gerade hinaufschwingen.
Der Hund legte sich in den Schnee und stieß, den Kopf zwischen den Pfoten, einen traurigen Klagelaut aus.
Eine Viertelstunde später lief Brolin die Carroll Street hinunter, verschmolz mit den Schatten des Gehwegs. Fröhlich sprang der Hund um ihn herum.
39
Mitten in der Nacht ist Annabels Wohnung in Brooklyn Heights noch immer in bläuliches Licht getaucht. Die breite Fensterfront des Wohnzimmers blickt auf Manhattan und seine der beiden kapitalistischen Totempfähle beraubte Skyline. Die Glaskuppel ist mit Schnee bedeckt und filtert die schillernden Strahlen des Mondes. Brady verdiente gut, er hatte die Wohnung fast abgezahlt und wohnte gerne hier. Auch an seinem Auto, einem BMW X5 mit Allradantrieb, den er knapp ein Jahr vor seinem Verschwinden gekauft hatte, hatte er eine fast kindliche Freude. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass er nicht aus eigenem Antrieb verschwunden war, dann war es diese Begeisterung, dessen war sich Annabel sicher. Die Liebe, die man im Herzen seines Partners schillernd zu erkennen glaubt, kann eine Schimäre sein, so grausam das auch klingen mag. Annabel zweifelte nicht an den Gefühlen ihres Mannes, aber Menschen, die ihn nicht kannten, brauchten konkrete Beweise, um nicht an einen Ausbruch aus der Ehe zu glauben.
Die Wanduhr in der Küche zeigt kurz nach eins an. Im Parkett des Wohnzimmers spiegelt sich schüchtern das winterliche Licht, und in diesem Zwielicht kann man fast meinen, das Schaukelpferd schwinge langsam vor und zurück. Die Kanope-Vasen mit der grünen Pflanzenkaskade tänzeln gemächlich am Ende ihrer langen Ketten. Plötzlich ist das gedämpfte Klirren des
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