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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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Raubtierlächeln oder spaßigem Grinsen warteten Hydren, Gorgonen und Drachen auf ihren Sockeln darauf, durch einen Zauberspruch aus ihrer mineralischen Starre befreit zu werden. Die drei Gestalten bahnten sich ihren Weg durch dieses gewaltige Schachbrett bis zur Theke am hinteren Ende des Raums. Saphir hatte die Ohren angelegt und schnupperte misstrauisch in die Luft, als fürchtete er, von diesen schlafenden Fabelwesen könnte eine reale Gefahr ausgehen.
    Auf die Platte aus rötlichem Kirschbaumholz gestützt, beobachtete sie eine alte farbige Frau. Ihre Augen ähnelten zwei Perlen mitten in einem See aus Elfenbein. Graue Strähnen durchzogen ihr langes schwarzes Haar. Brolin schätzte sie auf sechzig Jahre, sie konnte aber auch weit älter sein.
    »Hallo, Mae«, rief Annabel und zog zwei Hocker hinter der Theke hervor. »Ich habe einen Freund mitgebracht, er möchte dir ein paar Fragen stellen.«
    Brolin begrüßte sie knapp. Hinter der alten Frau entdeckte er eine hölzerne Hütte, die an die Wand genagelt war. Darin befand sich ein Totenkopf, daneben eine Rumflasche, Schnüre und verschiedenfarbige Stoffreste sowie eine kleine brennende Kerze. Er spürte Annabels Hand auf seinem Arm.
    »Man nennt das Kay-mistè, damit werden die Lwa, die ›Geister‹ empfangen«, flüsterte sie ihm zu.
    Brolin nickte. Mae Zappe trat in den Schatten zurück auf eine Tür zu, und er spürte, dass ihr Blick noch immer auf ihn gerichtet war.
    »Willkommen, mein Junge«, sagte die alte Frau und verschwand im angrenzenden Raum.
    »Wer ist das?«, fragte Brolin.
    Annabel war bemüht, sich die Befriedigung, die ihr diese Situation bereitete, nicht anmerken zu lassen. Brolin hatte nichts von seiner Aura verloren, schien aber nicht mehr so unnahbar, so unempfänglich für seine Umgebung. Neugier blitzte aus seinen Augen.
    »Das ist meine Großmutter«, erklärte sie. »Meine Hautfarbe habe ich ihr zu verdanken. Und all die fantastischen Geschichten meiner Kindheit und Jugend.«
    Mae kam mit einem Tablett zurück. Sie servierte ihnen Kaffee mit Rum und Orangenblütenlikör. Dann sah sie Brolin eindringlich an.
    »Danke«, sagte er. »Beeindruckend, all diese Statuen.«
    Sie schwieg und verzog keine Miene.
    »Haben Sie das alles selbst gemacht?«
    Mae rührte sich nicht. Dann tauschte sie einen verschwörerischen Blick mit Annabel, und endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht so etwas wie Sympathie.
    »Die Wasserspeier werden nicht gemacht, sie machen sich selbst. Deshalb sind sie auch so schön. Unter meinen Kunden sind einige sehr reiche Leute. Um eine meiner Kreaturen in ihrem Haus oder Garten zu haben, sind sie bereit, Höchstpreise zu zahlen, denn sie möchten unter ihren schützenden Fittichen stehen.«
    Schweigen legte sich über das Atelier.
    »Nicht jetzt, Mae«, sagte Annabel nach einer Weile.
    Die alte Frau nickte.
    »Du hast Recht. Also gut, stell deine Fragen, Sohn. Ich sehe, du hast es eilig.«
    Brolin holte tief Luft und warf Annabel einen kurzen Seitenblick zu.
    »Ich würde gerne etwas über den Hof der Wunder erfahren. Annabel sagte, Sie würden ihn kennen.«
    Mae fuhr mit der Zunge über die Oberlippe und trank einen Schluck aus ihrer Tasse. Dann wandte sie sich ab und begann, die dicken Kerzen in dem Regal hinter der Theke anzuzünden. Der bernsteinfarbene Schimmer, den sie verbreiteten, hatte etwas Wohltuendes.
    »Warum willst du das wissen?«, fragte sie.
    »Ich brauche diese Information. Ich möchte jemanden finden, und dazu muss ich diesen Ort aufsuchen.«
    »Diese Person ist also schlecht. Oder tot.«
    Ohne weitere Erklärungen abzugeben, griff die alte Frau zu einem Säckchen Mehl und leerte es auf dem nackten Betonboden aus. Mit der anderen Hand zeichnete sie Kreise und Striche, bis sich in dem weißen Pulver ein komplexes Symbol ergab.
    Annabel beugte sich zu Brolin und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist ein Vèvè, die symbolische Zeichnung eines Lwa. Ich glaube, das ist ein Beschützer. He, nun sehen Sie mich nicht so an, ich habe Sie gewarnt …«
    Irgendwo in der Werkstatt winselte Saphir ängstlich und kam herbeigetrabt, um sich zwischen die Beine seines neuen Herrn zu schieben.
    »Na, was gibt’s, mein Alter? Kriegst du Angst zwischen all den Ungeheuern?«
    Sein Lächeln erstarb, als er spürte, wie der Hund am ganzen Leib zitterte. Instinktiv drehte er sich auf seinem Hocker um und sah sich alle Statuen noch einmal an. Tatsächlich waren die Darstellungen unglaublich realistisch. Plötzlich stach ihm eine

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