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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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da oben‹ hatten die Macht, mal mehr, mal weniger. Und sie hatten Zeit. Macht und Zeit ließen sie anspruchsvoll werden, sie wollten immer mehr, mehr Land, mehr Städte, mehr Frauen, mehr Untertanen, es war eine Welt des Krieges … Heute hat sich das alles geändert. Man wollte allen ein wenig Macht geben, und die wächst, je mehr Zeit man der Gesellschaft schenkt. Und der Mensch will immer noch mehr, immer mehr, er gerät in eine rasende Spirale. Die früheren Kriege wurden durch Arbeit ersetzt, die Schlachten fordern ebenso viele Opfer, doch sie sind weniger sichtbar. Diese Kriege töten kaum noch Menschen, sie töten die Menschheit.«
    Brolin hielt kurz inne, der Bootsanleger nebenan schaukelte knarrend im Wasser. Dann fügte er hinzu: »Sie machen uns zu Maschinen.«
    Mit einem gellenden, verzweifelten Schrei bekundete eine Möwe ihre Zustimmung.
    Annabel fröstelte. Zum ersten Mal fasste jemand dieses Gefühl, das sie bewegte, in Worte. Diesen Eindruck, dass sich die Welt nach und nach selbst verlor. Doch sie übernahm die Rolle des Advocatus Diaboli: »Ich denke, Sie sehen zu schwarz. Viele Männer und Frauen sind in dieser Welt glücklich«, konterte sie.
    »Natürlich. Sie kennen doch die Geschichte von dem Frosch, den man in kochendes Wasser taucht, oder? Kaum im Wasser, springt der Frosch mit einem Satz heraus. Setzt man ihn aber in lauwarmes Wasser und erhöht langsam, sehr langsam die Temperatur, so rührt sich der Frosch nicht, auch dann nicht, wenn das Wasser zu kochen beginnt, und dann ist es zu spät.«
    Er holte zu einer weiten Geste aus und fuhr fort: »Genauso verhalten wir uns!«
    Annabel kicherte, diesmal ging er wirklich zu weit.
    »Wissen Sie, was Sie sind?«, sagte sie schließlich ohne jede Bosheit. »Sie sind paranoid und pessimistisch. Man muss doch Vertrauen in diese Gesellschaft, in dieses System haben.«
    Brolin nickte traurig. Sie verkörperte genau das, was er gerade ausgeführt hatte.
    »Caliban dominus noster … Erinnern Sie sich, Annabel. ›Caliban ist unser Herr.‹ Er ist das Produkt dieser neuen Welt. Genau das wollte Bob erschaffen.«
    Sie schob ihre Zöpfe auf die andere Seite, um Brolin direkt anschauen zu können. Der betonte noch einmal: »Caliban ist der Preis, den diese Gesellschaft bezahlen muss, das Abfallprodukt ihrer Wahl. In einem System latenter Perversität ist er das Ergebnis.«
    »Glauben Sie das wirklich?«
    »Ja. Es ist uns gelungen, die Liebe zu einem Konsumgut zu machen. Man probiert hier und dort, sammelt die Opfer, heiratet überhastet, einfach so, aus einer Laune heraus, um gleich danach die Meinung zu ändern. Bob ist das Kind all dessen, einer Welt der Konsummaxierung. Ein Kind, das allein aufgewachsen ist, gespeist mit der Gewalt des Fernsehens, der Medien, des herrschenden Zynismus und dessen Schreie der Angst, der Verzweiflung, der Einsamkeit nie gehört wurden. Jetzt ist es zu spät. Bob ist mit diesem Konsummodell aufgewachsen, die Macht liegt in dem, was man besitzt. Man baut sich selbst auf, indem man notfalls die anderen niedertritt. Heute zeigt uns Bob, wie gut er seine Lektion gelernt hat. Er häuft an, er sammelt, er hat die Macht. Er hat sich Caliban als Emblem geschaffen, als zynisches Symbol unserer modernen Mängel.«
    Annabel schreckte auf.
    »Was? Wollen Sie behaupten, dass das der Grund ist? Dass er all das tut, um zu haben!«
    »Nein, Annabel, um zu sein. Er hat sehr genau verstanden, was ihn diese Welt jeden Morgen lehrt: Um zu sein, muss man haben. Man muss eine Sozialversicherungsnummer haben, einen Führerschein, ein Haus, eine Frau oder einen Mann, Kinder, einen großen Fernseher, immer mehr und immer wieder neue Kleidung, neue CDs, Geld auf dem Konto, um in Urlaub fahren zu können, um anderen aus purem Vergnügen Geschenke zu machen. Genau das hat Bob verstanden.«
    Brolin starrte auf einen Haufen angeschwemmter Plastiktüten und fügte dann hinzu: »Aber er erhebt sich über die anderen, er besitzt Menschen, ihr ganzes Leben. Für sich allein.«
    Annabel runzelte die Stirn; eine solche Motivation konnte sie sich nicht vorstellen.
    »Das ist ja total verrückt!«
    »In gewisser Weise nicht verrückter, als sein ganzes Leben einem Unternehmen zu schenken, um einige Jahre vor der Rente hinausgeworfen zu werden …«
    Annabel schluckte mühsam. Plötzlich fragte sie sich, ob Brolin wirklich dachte, was er sagte. Sie suchte eine Antwort in seinen verzweifelt leeren Augen.
    »Vergessen Sie die Tätowierungen nicht«, fuhr er fort.

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