In Blut geschrieben
Hört zu, ich rufe an, weil die Männer von Keel ein wichtiges Detail herausgefunden haben. Eine Verbindung zwischen den Verbrechen – beim Modus Operandi.«
Annabel vergrub die Hand in ihrem Haar.
»Was haben wir übersehen?«
»Sechzig Prozent der Entführungen sollen bei extremen Wetterverhältnissen stattgefunden haben. Bei starkem Schneefall, bei heftigem Regen oder Gewitter.«
»Bist du sicher?«
»Hör mal, das ist nicht auf meinem Mist gewachsen! Keel lässt alles noch einmal überprüfen. Doch da muss einer erst mal draufkommen! Und es erscheint ihnen wichtig genug, um mit vollem Einsatz daran zu arbeiten, das heißt, sie haben alle Wetterstationen kontaktiert, um herauszufinden, wie genau die Umstände zum Zeitpunkt jeder Entführung waren. Sieht so aus, als hätte das FBI das wohl gehütete Geheimnis gelüftet.«
»Und dieser Keel? Wie ist der so? Hat er sich nach uns erkundigt?«, wollte Annabel wissen.
»Nein, ich glaube, er ist froh, euch nicht im Haus zu haben. Seine Männer wenden sich an Captain Woodbine, wenn sie etwas brauchen, das ist alles. Special Agent Keel ist der Zwillingsbruder von Yul Brynner im Dreiteiler – dieselbe beunruhigende Präsenz, derselbe kahle Schädel.«
»Auf jeden Fall, danke, Brett.«
»Eins noch. Geht mit größter Diskretion vor. Keel gehört zu der Sorte, die einem die Hölle heiß machen, wenn er merkt, dass man ihm ins Gehege kommt. Er hat die Ermittlungen von Anfang an genauestens verfolgt. Dieser Typ ist ein Hai, er hat sofort den großen Coup gewittert und den geeigneten Moment abgewartet, um aufzutauchen. Er hat alles getan, um mit von der Partie zu sein. Einer seiner Männer hat mir verraten, Keel und der stellvertretende Bürgermeister seien befreundet. Das sagt ja wohl alles.«
»Kein Kommentar. Brett, wir fahren nach Phillipsburg. Halte mich auf dem Laufenden, wenn es etwas Neues gibt oder falls Keel dasselbe vorhat.«
Als Annabel auflegte, konnte sie sich ein bewunderndes Seufzen nicht verkneifen. Dieser Bob war wirklich clever. Er suchte sich sein Opfer aus, dann beobachtete er es so lange, bis er seine Gewohnheiten kannte. Anschließend wartete er, bis sich die Wetterbedingungen verschlechterten, und bezog seinen Posten. Er musste ständig zwei oder drei potenzielle Opfer haben. Je nachdem, ob sich Regen, Schnee oder ein Gewitter ankündigten, wählte er die Beute aus, bei der er leichtes Spiel zu haben glaubte. Niemals ein Zeuge, und das aus gutem Grund. Wer achtet schon wirklich auf seine Umgebung, wenn es regnet? Man zieht den Kopf zwischen die Schultern, damit das Wasser nicht den Nacken hinunter rinnt, die Sicht ist behindert, man flaniert nicht, man ist in Eile, und niemand sieht etwas. Bei einem Gewitter oder Schneegestöber würde ein möglicher Zeuge, selbst wenn er zu Hause am Fenster stünde, so gut wie nichts erkennen.
Annabel nickte.
Ja, das musste man ihm lassen, diesem Bob. Er war gerissen. Er war einfallsreich und geduldig. Und wenn das Wetter nicht geeignet war – was in der Gegend von New York selten der Fall war agierte er nachts in abgelegenen Gegenden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Thayer.
»Ja. Ich dachte mir gerade, dass dieser Bob, den wir jagen, ein kleines Verbrechergenie ist. Und dass der Bursche vom FBI, der den Fall übernommen hat, auch nicht auf den Kopf gefallen ist.«
»Wieso das?«
»Jack, nimm die Akten, ich erkläre es dir unterwegs. Wir werden jetzt Sheriff Murdochs Dienste in Anspruch nehmen.«
Wie um sich über die junge Frau lustig zu machen, fiel der dichte Schatten der Wolken auf die Skyline von Manhattan, bevor er sich auf die Bucht legte und alle Lichtreflexe absorbierte.
Es begann wieder zu schneien.
54
Die Wände waren grün gestrichen und mit obszönen Graffiti und Messerkerben übersät. Außerdem gab es eine Tür und einen Spiegel, sonst nichts.
In der Mitte stand ein Tisch, und auf einem der beiden Stühle saß die schmächtige Gestalt von Janine Shapiro. Wie zwei Knochen ragten die Arme aus der beigefarbenen Bluse, und ihre winzigen Finger, die nervös auf der Tischplatte spielten, glichen einem tropischen Insekt, das die Beine anzieht und streckt. Ihre braunen Augen, die viel zu groß und zu schwer für den Kopf schienen, beherrschten das hagere, verhärmte Gesicht.
Special Agent Keel trat in das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Janine schreckte zusammen.
Eine Stunde lang hatte Neil Keel durch die Einwegscheibe beobachtet, wie die Angst Janine Shapiros letzten Widerstand
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