In Blut geschrieben
getötet. Seine Fantasie war gereift, sie hatte sich im Gefängnis weiterentwickelt, wo er eine Strafe wegen versuchter Vergewaltigung abbüßte und Zeit genug hatte, diesen Angriff wieder und wieder zu durchleben. Als er dann herauskam, war sein Verlangen ins Unendliche angewachsen und drängte darauf, befriedigt zu werden. Doch es war schwieriger, die Fantasien in die Tat umzusetzen, als nur davon zu träumen. Brolin schüttelte den Kopf. Er verlor sich in Spekulationen, nichts ließ sichere Schlussfolgerungen zu, auch wenn dieses Schema gängig war. Im Grunde wusste er, dass sich Spencer Lynchs Entwicklung in etwa so abgespielt haben musste.
Bei seinem ersten Mord – Meredith – hatte er sich an einer Frau seiner Rasse vergriffen, das hatte ihm Sicherheit verliehen; sie war jung, offen und großzügig, also auch angreifbarer, da leichter zu manipulieren. Viele Serienkiller setzen die Vorzüge ihrer Opfer gegen sie ein. Diese Welt zwingt uns, aus Vorsicht zu paranoiden Individualisten zu werden, dachte Brolin zynisch.
Danach war fast ein halbes Jahr verstrichen, bis Spencer Lynch erneut aktiv wurde. Beim dritten Opfer war der Abstand viel kürzer gewesen, er fand also Gefallen daran, vor allem aber war er selbstsicherer geworden.
Was Brolin auffiel, waren die verschiedenen Ethnien der Opfer. Afroamerikanerin, Russin, Latino. He, Spence, weißt du nicht, was du willst? Bist du noch bei der Selbstfindung? Er hatte mit jemandem seiner Rasse begonnen, und Brolin war hundertprozentig sicher, dass er den Überfall in einer vertrauten Umgebung verübt hatte, um sich zu motivieren und sich sicherer zu fühlen. Beim ersten Mal hatte er das noch gebraucht, um die Tat überhaupt ausführen zu können, er hatte sich auf unterschiedliche Art Mut machen müssen, um das auszuleben, wovon er träumte.
Nach dem damaligen Polizeibericht war Meredith an einem Nachmittag auf dem Weg zur Kirche, die in der Nähe des Navy Yard in Brooklyn lag, verschwunden. Illiana lebte in Coney Island, das war eine gute Ecke von Spencer Lynchs Wohnung entfernt, ganz zu schweigen von Julia, die, weit von ihrem Angreifer, in Queens/Corona wohnte. Mit der Zeit entfernte er sich immer mehr von seiner Wohnung, und das untermauerte die These, dass das erste Verbrechen in einer vertrauten Umgebung stattgefunden hatte, die ihm Sicherheit gab.
Man musste mit dem ersten Opfer beginnen, denn das sagte am meisten über Spencer Lynch aus.
Und eine Verbindung zwischen Spencer Lynch und Rachel Faulet finden. Warum hatte er ihr Foto bei sich zu Hause aufgehängt? Ich flehe Sie an, tun Sie alles, sorgen Sie dafür, dass meiner Tochter nichts passiert! Machen Sie, dass ihr nichts geschehen ist, finden Sie sie …
Brolin schloss die Augen.
Mr. Faulet hatte ihn wegen der Kontaktaufnahme angerufen. Seine Frau war außer sich, doch sie hatte sich beherrschen können, zumindest bis Brolin auf der Schwelle stand, dann war sie in Schluchzen ausgebrochen. Jenes Weinen, das den ganzen Körper ergriff und das Brolin so gut kannte. Sie hatte ihn angefleht, ihre Tochter heil und gesund zurückzubringen, so als wäre er selbst der Entführer und hätte sie in seiner Gewalt. Dabei wussten sie nicht einmal, ob sie wirklich entführt worden war. Bis das Foto von Rachel in der Post erschienen war, hatten sie gehofft, sie hätte sich nur im Wald verirrt oder infolge eines Unfalls das Gedächtnis verloren oder gar, sie wäre ausgerissen. Jede Hypothese, auch die verrückteste, war recht, um sich nicht das Schlimmste vorstellen zu müssen.
Nachdem Brolin jetzt bereits seit eineinhalb Jahren als Privatdetektiv arbeitete, gelang es ihm noch immer nicht, sich über das Leid der Familie hinwegzusetzen. Durch seine eigenen Erfahrungen fühlte er sich ihnen zu nah.
Er drückte seine Zigarette in einer Untertasse aus, die auf der Bar stand.
Er würde auch eine Liste von Spencer Lynchs Mithäftlingen brauchen, das Gefängnis ist der beste Ort für kriminellen Austausch. Bei dieser Vorstellung zeichnete sich Bitterkeit auf seinem Gesicht ab.
»Alles in Ordnung, Sir?«
Brolin wandte sich um, der Barmann stand vor ihm und beobachtete seinen Gast besorgt.
»Ja, alles bestens, danke.«
Der Privatdetektiv räumte eilig die Papiere zusammen, die er auf der Theke ausgebreitet hatte. Der Perückenmacher war sein erstes Ziel, anschließend würde er den Eltern von Meredith Powner einen Besuch abstatten. Er wusste, das Mitgefühl würde wehtun, doch vielleicht ergab sich von dort aus eine
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