In Blut geschrieben
entscheidende Spur. Eine Spur, die von Meredith zu Rachel führen könnte.
Er hatte ohnehin noch nichts anderes.
Er trat an ein Fenster und betrachtete den tiefen grauen Himmel, der die Spitzen der Wolkenkratzer verhüllte.
Er durfte keine Zeit verlieren. Vielleicht schrie in genau diesem Augenblick irgendwo die zwanzigjährige Rachel vor Angst …
11
Während des ersten Kreuzzugs, Ende des 11. Jahrhunderts, wurde die Stadt Antiochia acht Monate lang belagert. So lange wie möglich verteidigten die Mohammedaner ihr Hab und Gut. Nahmen die Kreuzritter einen von ihnen gefangen, enthaupteten sie ihn und warfen – um die Bewohner zu beeindrucken und um Krankheiten zu verbreiten – die Köpfe über die Stadtmauer. Schließen wir kurz die Augen und versetzen uns ins Innere dieser von den schlimmsten Feinden bedrängten Stadt. Dort sind Männer, Frauen und Kinder, die nachts beobachten, wie sich die westlichen Heere nähern. Im flackernden Schein der Fackeln sehen sie Rüstungen ohne Gesichter, Kriegsmaschinen und Körbe voll mit abgeschlagenen Köpfen. Die Festungsmauern von Antiochia werden nicht mehr lange standhalten, nichts kann die Christen aufhalten. Sie werden durch die Straßen stürmen und mit den blitzenden Klingen ihrer Schwerter den Tod in die Stadt bringen. Die Männer spüren, wie sich angesichts des bevorstehenden Massakers das Herz zusammenschnürt, den Frauen erstarrt das Blut in den Adern, die Kinder weinen leise. Sie wissen, dass sie sterben müssen, und jetzt macht die Angst ihre Tränen bitterer als der Hass. Tausende von Augenpaaren werden schreckvoll aufgerissen, als der Sturmbock durch das große Tor bricht. Alles ist vorbei. Der Tod tritt ein.
Tausend Jahre später, unter der Dunstschicht, die über Brooklyn liegt, für immer auf glänzendes Fotopapier gebannt, dieselbe Intensität in den Augen, eine Mischung aus dumpfer Resignation und Grauen.
Die Fotos, Ikonen des Leidens, sind an die Wand geheftet worden, wo sie das Neonlicht zurückwerfen. Oberhalb der Fotografien löst sich die Farbe in Blasen von der Wand ab, und man findet kleine Stücke am Boden, manchmal, wenn im Wind eine Tür zuschlägt, auch in seiner Kaffeetasse.
Zwischen dieser Wand aus Blicken und den vier gegenüberliegenden Fenstern stehen mehrere Schreibtische, Stühle und sogar ein mit Brandlöchern und Flecken übersätes Sofa. Man blickt auf die drei Stockwerke tiefer gelegene Bergen Street und die Polizeiwagen, die dort geparkt sind. Im 78. Revier von New York wird dieser Raum »Räucherkammer« genannt wegen der stickigen Luft, wenn dort bei Versammlungen zu viel geraucht wird; gelegentlich werden hier auch Sonderkommissionen untergebracht, was allerdings in den letzten fünfundzwanzig Jahren nur ein Dutzend Mal vorgekommen ist.
Dieses Mal gehörten zu der SOKO, die sich in der »Räucherkammer« eingerichtet hatte, Bo Attwel, Annabel O’Donnel und Fabrizio Collins; koordiniert wurde das Team von Jack Thayer. Überall lagen ihre Akten und Jacken herum, und in der Luft hing der Geruch ihrer billigen Deodorants.
Die Szene wäre ein gefundenes Fressen für einen Karikaturisten gewesen. Thayers von Falten zerfurchtes Gesicht hätte er sicher als eine alte verschrumpelte Frucht dargestellt. Bei Annabel hätte er ihre Abstammung hervorgehoben und sie als Mischling dargestellt, wobei er ihren muskulösen Körper übertrieben und ihre athletische Figur wie die eines vollgepumpten Bodybuilders überzeichnet hätte. Fabrizio wäre der Karikatur eines Italieners sicher nicht entkommen: tadelloser Anzug, pomadisiertes Haar, dunkle Brille und der obligate Borsalino – obgleich so ein Bild das genaue Gegenteil von Fabrizio war. Lieutenant Bo Attwel hingegen wäre schwerer darzustellen gewesen; hier wäre nur René Magrittes Son of Man mit einem Apfel anstelle des Kopfes und einer Melone als Hut darauf in Frage gekommen, denn nur so wäre das Geheimnisvolle zu vermitteln, das einen Menschen interessant macht.
Bo Attwel bedankte sich bei seinem Gesprächspartner und legte den Hörer auf. Er griff nach einem Blatt Papier, auf dem er einen Namen notiert hatte, und heftete ihn unter eines der Fotos.
»Die vierunddreißigste Identifizierung«, kommentierte er in einem eigenartigen Ton, einer Mischung aus Stolz und Niedergeschlagenheit.
Lieutenant Attwel war um die fünfzig, sein Äußeres machte ihn zu einem Schatten des typischen Durchschnittsamerikaners: leichter Bauchansatz, vom Stress gezeichnetes Gesicht, Anzüge im
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