In Blut geschrieben
der ins Objektiv gerichtet war.
Brolin überzeugte sich, dass er noch immer allein in der Bar war, und breitete dann die verschiedenen Dokumente auf der Theke aus.
Er sah zwei Gesichter vor sich, die beiden Opfer von Lynch.
Meredith Powner, neunzehn Jahre, war am 17. August 2001 verschwunden, Illiana Tarpo, siebenundzwanzig Jahre, am 4. Januar diesen Jahres. Die dritte Frau, der die Flucht gelungen war und die jetzt im Krankenhaus lag, hieß Julia Claudio; Zeugenaussagen zufolge war sie letzte Woche, am 15. Januar, entführt worden.
Brolin schlug den Obduktionsbericht auf und begann, die Informationen zusammenzufügen. Alle waren skalpiert und die beiden ersten in der Badewanne ertränkt worden. Meredith’ Körper war nur noch ein abscheulicher Brei, der von Illiana befand sich im Stadium der beginnenden Desquamation, der Abschuppung. Spencer Lynchs Unterschlupf war seit Beginn des Winters nicht geheizt worden, also war das Wasser in der Badewanne mehrere Wochen lang eiskalt gewesen. Das hatte die Leichen länger in einem »menschlichen« Zustand erhalten, wenngleich die Gesichter sich in eine grässliche dunkle Blume verwandelt hatten. Nach einer so langen Liegezeit im Wasser kann man die Haut einer Leiche abziehen wie den Schwanz einer Crevette. Man hatte beim Herausheben sehr vorsichtig vorgehen müssen, hatte vor allem nicht an den Armen ziehen dürfen, um am Ende nicht Handschuhe aus Menschenhaut in Händen zu halten.
Die beiden Frauen waren dank ihrer Papiere identifiziert worden, Lynch hatte ihre Sachen bei sich aufbewahrt, die Brief- und die Handtaschen und sogar die Kleidung. Es waren seine Trophäen. Im vorläufigen Laborbericht hieß es, die weibliche Unterwäsche, die in Spencer Lynchs Bett gefunden worden war, sei mit gelben Flecken übersät gewesen, höchstwahrscheinlich handele es sich um getrocknetes Sperma. Man konnte nicht sagen, ob die Leichen geschändet worden waren, doch als sich die Körper im vorgerückten Verwesungszustand befanden, hatte Lynch wohl auf die Unterwäsche ejakuliert und so noch einmal die Fantasien durchlebt, die er bei der Tötung gehabt hatte. Zwanghafte Masturbation, wie bei so vielen Mördern dieser Art, schloss Brolin.
Und der Prozess des Profilings setzte ein.
Mit Brolin hatte zunächst das FBI, dann die Polizei von Portland einen hervorragenden Mann verloren, bei dem sich Empathie und Können zu einer verwirrenden, ja manchmal erschreckenden Alchemie vereinigten. Das kriminelle Denken durchdrang ihn, zunächst erspürte er den Mörder, dann, nach und nach, konnte er ihn erklären, sein Wesen, sein krankhaftes Verlangen und dessen Ursprünge: seine Ängste.
Doch so weit ging der Privatdetektiv jetzt nicht, er ließ Spencer Lynchs Psyche unbeachtet, denn er verfügte nicht über genügend Elemente, um sie zu verstehen.
Was Brolin im Moment interessierte, war das Profil der Opfer, denn das allein sagte schon viel über den Mörder aus. Das erste, Meredith, war schwarz, ein lebhaftes junges Mädchen, das sich sehr in der Kirche engagierte, im Chor sang, mit ihren Freundinnen in Krankenhäuser ging, um Kinder zu besuchen, und gute Schulnoten hatte. Kurz, ein reizendes Mädchen. Die zweite junge Frau war russischer Abstammung, ihre Familie hatte sich nach dem Fall der Mauer hier niedergelassen. Sie lebte in Little Odessa auf Coney Island. Illiana arbeitete in einem Maniküresalon, sie hatte offenbar keinen Freund und lebte allein. Es hatte größerer Selbstsicherheit bedurft, sie anzugreifen, denn sie war älter, reifer und sicherlich nicht so zutraulich wie Meredith.
Da bist du ein gutes Stück vorangekommen, Spence, was? Meredith war verletzlicher, hat dir das nicht gefallen? Hat sie keinen Widerstand geleistet, war es zu einfach? Was erregt dich, Spence, wenn sie sich wehren?Ist es das? Wenn sie kämpfen? Du willst Panik in ihren Augen lesen, ist das dein Lustgewinn – dieser kleine Sieg?
Brolin nahm Spencer Lynchs Foto zur Hand und las die wenigen Zeilen, die es begleiteten. Er war bei der NITRO (Narcotics Investigative Tracking of Recidivist Offenders) erfasst, einer Datenbank, in der Straffällige geführt werden, die wiederholt gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen haben. Er war wegen Handels mit Heroin und Medikamenten sowie wegen sexueller Belästigung im Gefängnis gewesen, doch er war nicht in der DNA-Datenbank gelistet. Im Alter von achtundzwanzig hatte er schon neun Jahre gesessen. Doch bis zu seiner Entlassung im Juni 2001 hatte er nie
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