In Blut geschrieben
Leben.
Mancherorts entdeckt man unheilvolle Blitze – Blaulichter von Polizeiwagen, deren Strahl an die trostlosen Fassaden geworfen wird und diesen tristen Straßen einen Rhythmus vorgibt. Bedürfte es einer Musik, um dieses Schauspiel zu begleiten, so wäre es ein langsamer, wehmütiger und zugleich düsterer Chorgesang, eine Hymne an die unglaubliche Anonymität dieser Millionen von Existenzen – so allein zwischen den Phantomen der Riesenstadt.
In einer dieser engen Schluchten bewegt sich eine Frauengestalt gegen den Menschenstrom. Ein beachtliches Weibsbild, könnte man sagen; recht hübsch, straffe Haut über den sehnigen, harten Muskeln, fester Schritt.
Gegen den Wind gestemmt, eine Papiertüte mit Einkäufen unter dem Arm, ganz mit ihren Gedanken beschäftigt, lief Annabel die Clinton Street hinauf. Sie überquerte die Joralemon Street und verschwand auf der Mitte für einen kurzen Augenblick in einer dichten Dampfwolke, die von einem Gully ausgestoßen wurde. In dem Moment, als sie den Fuß auf den gegenüberliegenden Bürgersteig setzte, begann ihr Handy zu vibrieren, dann zu summen.
Mist. Ja, ja, immer mit der Ruhe!, schimpfte sie leise.
Sie stellte ihre Einkaufstüte auf einem Fenstersims ab.
»O’Donnel.«
»Hallo, guten Abend. Hier ist Joshua Brolin, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Annabel vergewisserte sich, dass ihre Tüte sicher stand.
»Schießen Sie los.«
Der Privatdetektiv kam gleich zur Sache.
»Ich habe heute Nachmittag den Perückenmacher aufgesucht, dem Lynch das Haar seiner Opfer verkauft hat. Ein komischer Kauz, scheint aber ehrlich zu sein, was er sagt, hat Hand und Fuß. Die Polizei sieht er allerdings lieber von hinten, wahrscheinlich betreibt er irgendeinen kleinen Schwarzhandel, nichts Ernstes. Sie haben überprüft, ob er aktenkundig ist, oder?«
»Haben wir, und tatsächlich hat er sich nichts zuschulden kommen lassen.«
»Hm …« Es folgte ein leises Hauchen, als würde er Zigarettenrauch ausstoßen. »Das wundert mich nicht. Anschließend war ich bei den Eltern der kleinen Powner, die Erste, die Lynch entführt hat, und auch hier gab es nichts Außergewöhnliches. Ich habe mich eingehender über die Umstände der Entführung informiert. Und dabei …«
»Brolin? Hören Sie, wird es ein längeres Gespräch?«
»Ich wollte nur korrekt sein, eine Hand wäscht die andere. Sie haben mir die Dokumente überlassen, und ich halte Sie über meine Fortschritte auf dem Laufenden.«
Annabel hob den Kopf. Das war Fair Play, unerwartet und angenehm. Und nicht dumm, denn so sicherte sich der Privatdetektiv ihre Hilfe. Einen Augenblick fragte sie sich, ob diese Offenheit von Dauer sein würde. Annabel beobachtete, dass die Passanten auswichen, um sie nicht anzurempeln.
»In welchem Hotel sind Sie?«, fragte sie schließlich.
»Im Cajo Mansion, Atlantic Avenue. Warum?«
»Ich komme vorbei«, seufzte sie. »Das dürfte einfacher sein.«
Sie beendete das Gespräch, nahm ihre Tüte und machte kehrt.
Die Hotelbar hatte sich gefüllt, eine Gruppe von Geschäftsleuten war in ein lebhaftes Gespräch vertieft, mehrere Paare speisten an Glastischen, auf denen Kerzen brannten. Aus dem Radio ertönte diskret ein Lied von Edie Brickell, dem niemand lauschte, außer vielleicht der Mann, der vor einem Martini saß. Er sackte, ohne es zu merken, mit jeder Minute mehr in sich zusammen, bis er wie ein von den Jahren gebeugter Greis aussah. Brolin trank sein Glas aus und blätterte dabei in der Tageszeitung. Wenn man ihn so sah, konnte man sich kaum vorstellen, dass er einmal ein guter Sportler gewesen war. Nicht dass er in die Breite gegangen wäre, doch mit dem Nachlassen des Trainings hatte auch seine Körperhaltung an Straffheit eingebüßt.
Die Tür zur Hotellobby öffnete sich, und Annabel trat ein. Joshua Brolin richtete sich auf und bemerkte erst jetzt, wie krumm er dagesessen hatte. Er deutete auf den Hocker an seiner Seite.
»Bitte nehmen Sie Platz. Ich habe wohl zu einem ungünstigen Zeitpunkt angerufen«, meinte er mit einem Blick auf die Papiertüte, die sie bei sich trug.
»Nein, Sie bringen mich nur um einen Teller Suppe und eine Stunde CNN, das ist das Drama meines Tages.«
»Nachrichten-Fast-Food, welch ein Programm!«
Sie nahm Platz und bestellte ein Mineralwasser.
»Nun, was genau wollten Sie mir sagen? Es ging um die Entführung von Meredith Powner, oder?«
Brolin nickte. Er war ganz auf seine Ermittlungen konzentriert und ließ ihr keine Zeit zum
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