In Blut geschrieben
nahmen die U-Bahn nach Coney Island. Unterwegs schwiegen sie und schauten aus dem Fenster, sobald der Zug den Tunnel verlassen hatte, um in fünfzehn Meter Höhe über die Stahlschienen zu rollen. Ihre Blicke trafen sich bisweilen, und ein verständnisinniges Lächeln spielte um ihre Lippen wie bei zwei Kindern, die stolz sind, die Schule zu schwänzen. Nach fünfzehn Kilometern verlangsamte der Zug sein Tempo. Brolin betrachtete die endlose Reihe brauner Türme, gigantische bunkerähnliche Gebäude, erleuchtet von Hunderten von Fenstern, und er sagte sich, dass er noch nie Sozialwohnungen mit Blick aufs Meer gesehen hatte. Mehr als anderswo manifestierte sich hier die Ironie der modernen Welt – man pferchte die Menschen in Käfige ein, sorgte aber dafür, dass sie einen Balkon bekamen mit Blick auf eine Freiheit, die man ihnen verweigerte.
Die Station Coney Island war menschenleer, nichts als Korridore, die nach Urin stanken. Im Winter war der Strand wie ausgestorben, bis auf vereinzelte ältere Leute, die in der Nähe wohnten. Weit und breit kein einziger Tourist, und bis zum nächsten großen Frühjahrsputz blieb die Gegend der Tristesse überlassen.
Unter den gleichgültigen Blicken eines dieser Wohntürme führte Annabel Brolin über einen von geschlossenen Frittenbuden gesäumten Weg. In einer Ecke palaverte ein Grüppchen von Halbwüchsigen, eingemummt in ihre Daunenjacken, vor einem Transistorradio, aus dem durchdringender Rap dröhnte. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst und einem Joint beschäftigt, um dem Paar Aufmerksamkeit zu schenken.
Die beiden spazierten an dem Vergnügungspark vorbei, der ebenfalls Winterschlaf hielt wie ein Meeresungeheuer, das vor langem hier an Land gespült worden war und nachts den skelettartigen Rücken seiner Achterbahn zur Schau stellte.
Annabel deutete auf eine Reihe von Stufen.
»Ab hier wird der Weg angenehm. Sie kennen New York nicht?«
»Ich war vor Jahren einmal als Tourist hier. In Brooklyn war ich allerdings noch nie.«
»Obwohl Coney Island offiziell zu Brooklyn gehört, ist dies eine Welt für sich. Im Sommer ist es das Paradies der Mittelschicht, im Winter aber … ist es nichts als ein leeres Gerippe. Und genau dann gefällt es mir hier am besten.«
Sie stiegen die Stufen hinauf, und der Ringelman Boardwalk erstreckte sich zu ihren Füßen: ein endloses Band von Planken, das den Strand säumte. Der Wind zerrte an Annabels Haar und spielte mit ihren Zöpfen; fröstelnd zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Brolin blieb stehen und betrachtete den grauen Sand und weiter hinten diesen dunklen Vorhang – das Meer, das man nur an seinem Rauschen erahnte.
»Viele Besucher, die zum ersten Mal nach New York kommen, sind nicht auf dieses Schauspiel gefasst. Die meisten verpassen es übrigens!«, bemerkte die junge Frau.
»Das wundert mich nicht.«
Der Wind blies seinen salzigen Atem unablässig vom Wasser herüber. Annabel überquerte die Promenade und sprang, gefolgt von Brolin, auf den Strand. Langsam schlenderten sie weiter und näherten sich nach und nach dem Wasser. Annabel wählte sorgfältig ihre Worte, ehe sie das Schweigen brach.
»Als ich Sie vorhin gefragt habe, warum Sie sich für den Beruf des Privatdetektivs entschieden haben, wollte ich nicht indiskret sein. Ich hoffe, Sie haben es nicht falsch aufgefasst …«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Nach Ihrer Hilfe von heute Mittag bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Ich hatte einen Uniprofessor, der sagte immer: ›Indem man die Neugier der Fremden befriedigt, schafft man sich Verbündete‹. Mir gefällt diese Idee.«
»Sie hofften, mich für Ihre Sache zu gewinnen, indem Sie an meine Gefühle appelliert haben?«, fragte sie belustigt.
»Ich glaube, das ist nicht mehr nötig. Es ist schon geschehen.«
Annabels erste Reaktion war Empörung, doch gleich darauf wurde ihr klar, dass er auf gewisse Weise Recht hatte. Die sanfte Art des Privatdetektivs hatte sie von Anfang an für sich eingenommen, wie natürlich auch die Sache, für die er eintrat. Und das war auch der Grund, weshalb sie ihm die vertraulichen Dokumente überlassen hatte. Doch seiner direkten Art mangelte es nicht an Dreistigkeit. Annabel musste sich eingestehen, dass ihr auch das imponierte.
Sie deutete auf eine Vertiefung im Sand, und sie setzten sich hin. Sie zog die beiden Bierflaschen aus ihren Taschen und reichte ihrem Begleiter eine.
»Ich war mehrere Jahre lang Detective bei der Polizei von Portland«,
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