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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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Ihnen die Details, sagen wir ganz einfach, dass im Fall von Spencer Lynch der Abstand zwischen der Freilassung aus dem Gefängnis und seinem ersten Verbrechen sehr kurz ist. Er hat nicht genug Zeit, um all diesen Druck aufzubauen. Von einem Typen wie ihm hätte ich erwartet, dass er mindestens ein oder zwei sexuelle Übergriffe versucht, bevor er so weit geht zu morden. Eine graduelle Entwicklung. Vorhin sprachen Sie von mehreren Mördern, nicht wahr?«
    »Moment mal! Ich habe nicht Mörder gesagt! Bis zum Beweis des Gegenteils gibt es nur die Opfer von Spencer Lynch! Wir denken an Männer, die gemeinsam Entführungen organisieren, doch es gibt keine Leichen.«
    Ihre Blicke begegneten sich. Brolin fixierte Annabel mit dem Ausdruck eines Menschen, der sich unterschätzt fühlt.
    »Wir wissen beide, dass es weitere Tote geben wird«, prophezeite er zynisch. »Ich wollte auf diese Männer zu sprechen kommen, weil es mich nicht wundern würde, wenn Lynch von einem dieser Kerle zu seinem ersten Mord gedrängt worden wäre. Jemand, der ihn kannte, ein Individuum mit einem ähnlichen Charakter wie dem seinen, der diesen Trieb in ihm zu erkennen wusste und Spencer Lynch angestiftet hat, ihn zu befriedigen. Der Auslöser. Das würde erklären, warum er so schnell nach seiner Freilassung getötet hat. Beim ersten Mal hat Lynch jemanden getötet, den er kannte, zumindest vom Sehen her. Morgen gehe ich zur St. Edwards Church, um mit dem Priester zu sprechen. Wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich ihm das Foto von Lynch. Vielleicht hat er ihn ja schon mal während der Messe oder auf dem Kirchengelände gesehen. Da die Ermittlungen geheim sind, wolle ich nicht ohne Ihr Einverständnis das Foto verwenden.«
    Annabel beobachtete ihren Gesprächspartner mit wachsendem Interesse. Sie trank ihr Glas aus und rutschte auf ihrem Hocker vor, um ihm besser in die Augen sehen zu können.
    »Warum sind Sie Privatdetektiv geworden? Sie machen Ihre Arbeit gut, sehr gut sogar. Warum Privatdetektiv, Spezialist für vermisste Personen‹?«, zitierte sie ihn ohne Spott.
    Ein Schatten huschte über sein Gesicht.
    »Das ist eine … komplizierte Geschichte«, sagte er, scheinbar emotionslos.
    Plötzlich schien es, als würde das Stimmengewirr in der Bar anschwellen, die beginnende Vertrautheit wich einer gewissen Verlegenheit.
    »Und Sie?«, fragte Brolin. »Was ist Ihre Geschichte? Was hat Sie dazu bewogen, zur Polizei zu gehen?«
    Annabel lächelte amüsiert, das Ausweichmanöver war schlecht getarnt, doch seine Ernsthaftigkeit gefiel ihr. Das hatte nichts mit sexueller Anziehung zu tun, er war nur ein angenehmer Gesprächspartner und eine so sonderbare, so vielschichtige Persönlichkeit, dass ihre Neugier geweckt war. Um ehrlich zu sein, hatte sie seit Bradys Verschwinden kein Verlangen mehr nach einem Mann verspürt. Sie hatte auch keinen Kontakt gesucht. Zwischen Tod und nächtlichem Hoffen hatte Annabel sich schon lange für Letzteres entschieden, wenn auch mit der Bitterkeit der Besiegten.
    »Nichts Ungewöhnliches«, erwiderte sie schließlich mit einem Zittern in der Stimme, das sie selbst mindestens genauso überraschte wie Brolin.
    Sie hüstelte leicht, um sich wieder zu fangen, und fügte in fröhlicherem Tonfall hinzu: »Tut mir Leid, doch ich habe nichts Originelleres an mir als die meisten Bewohner dieses Landes!«
    Brolin deutete nun seinerseits ein Lächeln an, das Annabel ermunterte fortzufahren: »Als durchschnittliche Vorstadtbewohnerin wurde ich in den siebziger Jahren mit Mais gefüttert und mit der Furcht vor einem Atomkrieg mit der UdSSR, dem Trauma der amerikanischen Jugend! Ansonsten interessieren mich menschliche Beziehungen, vor allem, wenn sich diese in einem atypischen Kontext abspielen. Ich bin gern unterwegs und liebe das Risiko, also bin ich zur Polizei gegangen.«
    »Keine Medaille? Keine historische Berühmtheit in der Familie? Keine hollywoodreife Trennung?«
    Bei dieser letzten Bemerkung erstarrten Annabels Züge für einen Augenblick, doch nach einer Weile kehrte der aufrichtige Ausdruck zurück. Sie musterten einander leicht verlegen, dann lenkte die junge Frau ihre Aufmerksamkeit auf die Einkaufstüte und fragte mit sanfter Stimme: »Was halten Sie von einem ausgedehnten Spaziergang?«
    Brolin blinzelte und nickte schließlich. Annabel nahm zwei Flaschen BudLight aus der Tüte und ließ sie in den Taschen ihrer Bomberjacke verschwinden. Die Tüte mit ihren Einkäufen ließ sie unter der Theke stehen.

    Sie

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