In Blut geschrieben
Sie sich das an, es sind Kinder dabei! Diese Dreckskerle haben sich auch an Kindern vergriffen! Alicia Ronald, zehn Jahre alt, Philip Chapuisat, elf, Carly Marlow, acht! Diese Kleine da ist erst acht!«
Thayer drückte die Schulter des jungen Detectives, bis dieser sich beruhigt hatte. Er konnte es nicht aussprechen, doch er dachte an diese Kinder und hoffte, dass sie sich jetzt in einer besseren Welt befanden; so schrecklich es klingen mochte, doch dort litten sie weniger. Das war seine Art, das Grauen zu ertragen.
Alicia, Philip, Carly und all die anderen.
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1 VICAP: Violent Criminal Apprehension Program: Programm zur Verhütung von Gewaltverbrechen
17
Carly Marlow war erst acht Jahre alt, als sie eingeschlafen war. Beim Aufwachen hatte sie kein Alter mehr. Innerhalb von einer Nacht hatte sich die Welt vollständig verändert, der Kokon der Unschuld, der sie umgeben hatte, verwandelte sich in Grauen. Und diese neue Existenz hatte ihr die Lust am Leben genommen.
Es ist eine Existenz ohne Hoffnung, ohne Freude, ja, ohne Zeit. Denn hier gibt es keinen Tag und im Grunde auch keine richtige Nacht. Die Flamme einer Kerze ist die einzige Sonne der Kleinen, die gelernt hat, sich in den Tropfen, die an der Decke – jenem dunklen Himmel, welcher jetzt der ihre ist – glitzern, neue Sterne zu ersinnen.
Es gibt keine Nervenkrisen mehr, keine Angstattacken, die ihr die Brust zusammenschnüren, sie kann nicht einmal mehr weinen, und für ein kleines Mädchen ihres Alters ist es unerträglich, seit Wochen, ja, seit Monaten – wer weiß das schon? – nicht mehr zu weinen.
Ganz zu Anfang hatte sie nacktes Entsetzen gepackt, so komprimiert, dass sie glaubte zu ersticken. Carly schrie sich die Seele aus dem Leib, sie verlangte nach ihrer Mutter. Als das Monster kam, brüllte sie und rief nach ihrem Vater. Es war ein echtes Monster, nicht wie die künstlichen aus den Filmen, nein, dieses hier war absolut real und abscheulich. Es hatte ganz und gar nichts Menschliches.
Dann war eine Frau aufgetaucht. Wie Carly hatte man auch ihr das Leben genommen, auch sie war hier in der Hölle. Carly wusste nicht, was sie Böses getan hatte, um die Hölle zu verdienen, und doch befand sie sich genau dort, das Monster war der beste Beweis dafür! Diese Frau sprach zu ihr aus der Ferne, irgendwo aus der Feuchtigkeit dieses kalten Gesteins. Sie hatte kein Gesicht, sie war nichts als eine Stimme mit einem schwachen Echo. Sie hatte ihr tröstende Dinge gesagt, und oft hatte Carly wegen dieser Frau aufgehört zu weinen. Nach und nach spürte die Kleine, wie sich die Worte in Liebkosungen verwandelten, sie konnte sie fast in ihrem Haar fühlen und schlief in solchen Augenblicken sogar bisweilen ein. Wenn das Monster kam, beschimpfte die Frau es und schrie, es solle Carly in Ruhe lassen.
Und dann, eines Tages, gab es keine tröstenden Worte mehr.
Die Frau war verschwunden.
Wie alles andere auch.
Carly musste dem Monster allein trotzen. Als sie aufhörte zu essen, zwang es sie, eine ekelhafte Suppe zu löffeln. Manchmal kam es mit einer Schüssel lauwarmen Wassers und einer Seife und befahl ihr, sich zu waschen. Sie weigerte sich. Das Monster nahm alles wieder mit und ging. Einmal schüttete es ihr das Wasser ins Gesicht, nur einmal.
Der Januar geht auf sein Ende zu, draußen schneit es, doch Carly weiß nichts davon. Hier gibt es keinen Kalender, auch kein Tageslicht, nie.
Plötzlich ein Kratzen auf dem Gang. Carly richtet sich nicht einmal auf, sie liegt unter drei Decken, die man ihr gegeben hat, seitdem es kalt ist. Schon lange reagiert sie auf kein Geräusch mehr, es sind so viele. Meist ein leichter Wind, bisweilen ein Tier – sicher ein Dämon, denkt sie –, es ist ausnahmsweise das Monster.
Neulich hat es sie angelächelt, zum ersten Mal. Es hat ihr gesagt, dass es bald vorbei sei.
Doch Carly in ihrem feuchten Verließ weiß genau, dass das nicht wahr ist. Seitdem sie hier ist, hat sie viel über das nachgedacht, was ihre Mutter ihr vom Tod gesagt hat, als Großvater gegangen ist. Jetzt hat Carly wirklich verstanden, sie ist tot, sie ist in der Hölle, und die Hölle hat kein Ende.
Man kann kein zweites Mal sterben, das weiß sie genau.
18
Als Annabel die Treppe hinunterlief, sah sie Brolin allein, ein Stück abseits, in der Halle stehen. Er schien etwas an sich zu haben, das die anderen instinktiv auf Distanz hielt – auch die Gruppe junger Leute, die aufgeregt mit dem Officer am Empfang diskutierte. Das vom Schnee
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