In Blut geschrieben
nasse Haar hatte er zurückgestrichen, nur eine Strähne fiel ihm in die Stirn. Sein markantes Gesicht war ausdruckslos und, wie Annabel fand, von fast erschreckender Schönheit. Als er sie sah, blitzten seine Augen auf, und seine Lippen begannen leicht zu beben. Annabel deutete das als Lächeln: Allmählich verstand sie sein Mienenspiel.
»Ich habe etwas für Sie«, sagte er knapp.
»Haben Sie es in der Kirche gefunden?«
Er schien nicht überrascht, dass sie Bescheid wusste. Er zeigte ihr das Stück Klebeband, das er in der St. Edwards Church gefunden hatte, und übergab ihr die Plastikhülle.
»Gratuliere! Wir hätten wahrscheinlich Tage gebraucht, um alles zu untersuchen und es zu finden«, bedankte sie sich. »Darf ich Sie auf ein Glas einladen? Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen.«
Sie gingen über die Straße zu Tanner’s, und dank seiner Begleitung empfingen ihn diesmal keine misstrauischen Blicke, keine Wand des Schweigens. Sie bestellten alkoholfreies Bier, und Brolin erzählte, wie er das Indiz unter der Kirchenbank gefunden hatte.
»Werden oder wurden vor kurzem Arbeiten an den Fenstern vorgenommen?«, erkundigte sich Annabel.
»Direkt neben der Reihe, in der ich das Tesafilmstück gefunden habe, stand ein kleines Gerüst.«
Das erklärte den Glasstaub. Annabel fand, es sei an der Zeit, ihre Informationen mit ihm zu teilen. Schließlich hatte er mit seinem Besuch den Pakt des Vertrauens besiegelt. Und sie erzählte ihm, was bei der FBI-Laboranalyse herausgekommen war und welche Schlussfolgerungen sie daraus gezogen hatten.
»Da ist noch etwas anderes, Brolin.«
Sie war leicht verunsichert und hielt ihr Glas mit beiden Händen umklammert.
»Ich glaube, ich bin Ihnen etwas schuldig.« Sie machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob er der Form halber protestieren würde, doch er schwieg. »Hören Sie, ich werde Ihnen unsere neuesten Erkenntnisse anvertrauen, aber noch einmal: Strengste Diskretion, ich riskiere sonst meinen Job. Okay?«
Brolin nickte.
Bist du blöd, du vertraust ihm, dabei ist er ein Unbekannter, von dessen Existenz du gestern Morgen noch nichts wusstest.
»Da sind zunächst die Fotos, die wir bei Spencer Lynch gefunden haben. Wie Sie sich schon denken können, sind es mehr als die acht in der Washington Post abgebildeten. In Wirklichkeit wurden siebenundsechzig verschiedene Personen aufgenommen.«
Brolin sagte nichts, doch sein Gesicht verriet Erstaunen.
»Etwa die Hälfte haben wir identifiziert. Sie sind alle spurlos verschwunden. Wir vermuten, dass eine Art Geheimsekte dahinter steckt, deren Anführer ein gewisser Bob ist, hier sind wir allerdings noch nicht sicher. Als Letztes haben wir herausgefunden, dass sie ihre Opfer tätowieren. Die Motive dieser Bestien sind uns vorerst noch unbekannt. Heute Abend hat unsere Sonderkommission eine Besprechung, doch ich fürchte, es kommt nicht viel Neues heraus, auch wenn wir bis Mitternacht tagen.«
Sie trank einen kräftigen Schluck Bier und fuhr dann fort: »Wir sind auf eine Art Psalm oder rituelles Gebet gestoßen; es war mit Menschenblut bei Lynch an die Wand geschrieben: ›Caliban ist unser Herr, in uns ist das Leben, denn das Fleisch leuchtet in der Dunkelheit.‹ Das Ganze natürlich auf Latein ›Caliban Dominus noster …‹ und so weiter.«
»Hat dieser Bob Kontakt mit Ihnen aufgenommen?«, fragte Brolin und sah sie dabei durchdringend an.
Sein Gesicht hatte plötzlich einen so harten Ausdruck, dass Annabel zunächst nach Worten suchte.
»Nein … das heißt, wir verfügen über einen Text, den er geschrieben hat, aber der ist nicht an uns gerichtet.«
»Wenn ich mir einen Rat erlauben darf: Bringen Sie die Ermittlungen mit einem bestimmten Namen in Verbindung, und lassen Sie ihn durch Presseerklärungen verbreiten. Dann weiß dieser Bob, an wen er sich zu wenden hat, falls er mit der Polizei Verbindung aufnehmen will. Wenn er der Anführer der Gruppe ist und sich mächtig genug fühlt, um nach Lust und Laune beliebig viele Menschen zu entführen, dann wird er die Ermittlungen als Schmach, als eine Art Herausforderung empfinden. In seiner Welt ist er Gott, und niemand darf sich auf seinen Rang erheben. Das könnte ihn animieren, Katz und Maus mit Ihnen zu spielen und dabei Fehler zu begehen. Es kann ihn aber auch nervös und noch gewalttätiger machen.«
Seine Züge glätteten sich und nahmen wieder ihren ernsten melancholischen Ausdruck an. Annabel zögerte, ehe sie fragte: »Das ist ein Profiler-Trick,
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