In Blut geschrieben
ihrem Beruf am wenigsten gefiel. Trotzdem war sie immer diejenige, die in der »Räucherkammer« die Anrufe entgegennahm, in der Hoffnung, Brolins Stimme zu hören. Es stand jetzt fest, dass der Privatdetektiv Recht gehabt hatte, was die Kirche und was Spencer Lynch betraf. Würde er auch weiterhin aufrichtig bleiben? In ihrem tiefsten Innern hegte Annabel keinen Zweifel, er war einfach zu anders. Sollte er etwas in der Kirche finden, würde er es ihr mitteilen.
»Sonderbar«, kommentierte Cahill für jedermann hörbar. »Höchst sonderbar.«
Eine Akte in der Hand, stand er vor den Fotos.
»Was denn?«, fragte die junge Frau.
»Nun, das ist wirklich merkwürdig. Ich war gerade dabei, die Informationen über diesen kleinen Jungen zu studieren, und als ich mir sein Foto angesehen habe, fiel mir dieser Fleck hier am Oberarm auf. Aus der Nähe betrachtet stellt man fest, dass es kein Hämatom ist, sondern eine Tätowierung. Ich habe seine Akte noch einmal überprüft, es steht nichts davon drin.«
»Wir sind erst am Anfang, lassen sie den anderen Zeit, die Familien zu befragen, bald werden wir über mehr Informationen verfügen. Wir können innerhalb von drei Tagen nicht alles über alle wissen.«
»Das ist nicht das Problem. Der Kleine ist erst zwölf Jahre alt – das dürfte doch wohl etwas früh für eine Tätowierung sein, oder?«
Annabel wollte etwas sagen, doch Cahill fuhr fort: »Das ist mir ins Auge gesprungen, weil es die dritte Person ist, bei der ich das festgestellt habe. Hier, dieser Mann: an derselben Stelle eine Tätowierung, auch in seiner Akte steht nichts davon drin, dabei hat Lieutenant Attwel persönlich mit seiner Frau gesprochen. In dem Feld »besondere Kennzeichen«, also Tätowierungen, deutliche Merkmale am Körper, et cetera, ist nichts vermerkt. Erst dachte ich, seine Frau hätte es vielleicht vergessen, wegen des Schocks oder sonst was, aber das sind mir allmählich zu viele. Und hier auch, bei diesem Mädchen; ich habe es zunächst für ein Feuermal an ihrem Hals gehalten, da bin ich mir nicht ganz sicher. Haben Sie irgendwo eine Lupe?«
Diesmal hatte Thayer von seinem Computer aufgeblickt. Er kam mit einer Lupe und inspizierte den Hals des Mädchens, einer gewissen Genna Fitzgerald.
»Es ist tatsächlich eine Tätowierung.«
Dann nahm er sich den zwölfjährigen Jungen und schließlich den Mann vor.
»Mist.«
»Was?«, fragte Annabel besorgt.
»Es ist dreimal dasselbe Motiv.«
Sie machten sich gemeinsam daran, die vierundsechzig restlichen Fotos nach dem geheimnisvollen Zeichen abzusuchen.
Binnen fünf Minuten hatten sie zwanzig weitere entdeckt.
»Das darf nicht wahr sein, sie sind alle tätowiert!«, murmelte Cahill entsetzt.
Annabel nahm einen Notizblock und versuchte, das stets wiederkehrende Symbol nachzuzeichnen. Sie befestigte ihre Skizze mit einer Stecknadel oben an der Korktafel.
»Sagt mir, dass ich träume«, flüsterte Thayer.
»Ein Strichcode«, sagte Annabel.
»Das ist der reine Wahnsinn! Warum tätowieren sie ihre Opfer mit einem Strichcode?«, rief Cahill empört.
Annabel zeigte auf die drei Polaroids, die Lynch aufgenommen hatte: »Wir wissen, dass Spencer Lynch das auch gemacht hat. Er benutzte eine Nadel und schwarze Tinte. Das war noch nicht so ausgefeilt, er hat nur Zahlen geschrieben, er ahmte seine Meister nach, vielleicht wartete er darauf, die Vorlage des Codes zu bekommen. Aber ich finde die Symbolik eindeutig: Sie betrachten ihre Opfer als einfache Konsumgüter.«
Jack Thayer nahm Annabels Skizze zur Hand.
»Ich faxe das sofort an alle Polizeistationen der Region und der angrenzenden Staaten, später an die der ganzen Ostküste. Annabel, können wir das Motiv möglichst schnell ins VICAP 1 des FBI eingeben?«
»Ich denke, ja. Wir müssen sofort Kontakt mit ihnen aufnehmen.«
Sie machten sich daran, die Tätowierung an alle Polizeidienststellen weiterzuleiten, mit der Bitte zu prüfen, ob diese Tätowierung schon einmal an Leichen oder anderswo entdeckt worden sei. Alle Mitglieder der Sonderkommission wurden informiert.
Als sich am späten Nachmittag bereits Müdigkeit in der Räucherkammer breit machte, bekam Annabel vom Empfang im Erdgeschoss einen Anruf, dass Joshua Brolin auf sie warte. Sie ging unverzüglich hinunter und ließ ihren Kollegen mit Cahill allein zurück.
»Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte Cahill, der vor der Fotowand stand.
Thayer legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Das kann niemand.«
»Nein, aber sehen
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