In Blut geschrieben
oder was? Woher können Sie wissen, wie er ist und was er denkt?«
Ein verbitterter Ausdruck huschte über Brolins Gesicht.
»Wenn man mehrere Hundert Akten von Kriminellen durchgearbeitet und ihre Pathologie und Motivation studiert hat, kristallisieren sich gewisse Konstanten heraus. Auch wenn jeder Fall anders ist, gibt es doch einige Aspekte, die man schon bei früheren Fällen entdeckt hat. Aber all das nutzt nichts, wenn … wenn man nicht in der Lage ist, sich in den Mörder hineinzuversetzen und beim Studium eines Dossiers die Gründe nachzuvollziehen, die sich hinter jedem Messerstich verbergen. Oft irrt man sich, aber man versucht es, und es kommt immer irgendetwas Brauchbares dabei heraus.
Mache ich Ihnen Angst, Detective O’Donnel?«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Großer Gott, nein. Ich kenne nicht alle psychologischen Aspekte eines Verbrechens, ich habe die Polizeischule besucht, und da hat man keine Zeit, sich mit Hunderten von Fällen von Serienkillern zu beschäftigen. Was einen guten von einem schlechten Polizisten unterscheidet, hat nichts mit seiner Ausbildung zu tun, es ist eine angeborene Gabe. Ich begeistere mich für meinen Beruf und hoffe, dass ich auch Talent habe. Wenn das der Fall ist, dann sind wir beide – Sie und ich – uns ähnlich. Wir leisten gute Arbeit, weil wir diese besondere Ader haben.«
Belustigt über ihre Aufrichtigkeit, lächelte Brolin und entblößte dabei seine weißen Zähne.
»Ja, die scheinen wir tatsächlich zu haben.«
Er leerte sein Glas, erhob sich und griff nach seiner alten Lederjacke.
»Vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit und die Informationen. Ich werde noch einige Zeit in Brooklyn bleiben und Sie über meine Fortschritte auf dem Laufenden halten.«
Noch ehe sie ihre Fragen stellen konnte, sah Annabel, wie er im Schneegestöber der 6th Avenue verschwand, geschmeidig wie ein Vogel im Wind.
*
Joshua Brolin kehrte ins Hotel zurück, wo ihn ein Fax aus Portland erwartete. Larry Salhindro hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Namen von Spencer Lynchs Mithäftlingen zu bekommen. Brolin hatte mit mehr Namen gerechnet, doch letztlich hatten nur zwei Männer die Zelle mit dem Mörder geteilt. Vielleicht war man der Ansicht gewesen, sein psychischer Zustand sei nicht stabil genug, oder man hatte ihn schützen wollen. Brolin wusste genau, was einen Vergewaltiger im Gefängnis erwartet. Einer seiner beiden Mitinsassen war ebenfalls wegen sexueller Gewaltdelikte verurteilt, was eher für die zweite Hypothese sprach. Dieser Mann, James Hooper, war noch immer wegen wiederholten Missbrauchs von Kindern inhaftiert. Er hatte noch zwei Jahre vor sich, das machte es für Brolin schwer, ihn zu treffen. Der andere, ein gewisser Lucas Shapiro, war im Mai 2000 nach einem einjährigen Gefängnisaufenthalt wegen Einbruchs entlassen worden. Doch er hatte bereits vorher eine achtjährige Haftstrafe verbüßt, weil er auf dem Parkplatz eines Nachtclubs eine Frau vergewaltigt hatte. Lucas Shapiro hatte einen guten Teil der 1990er Jahre hinter Gittern verbracht, was ihn nicht eben umgänglich gemacht haben dürfte. Salhindro hatte sich wie immer ins Zeug gelegt und sich von seinem Bewährungshelfer sämtliche Daten über Shapiro besorgt. Dieser arbeitete zurzeit auf dem Fleischgroßmarkt in Manhattan und lebte mit seiner Schwester in Brooklyn.
Brolin wusste, dass das Gefängnis der beste Ort für einen Kriminellen ist, um Verbindung mit seinesgleichen aufzunehmen – eine wahre Vermittlungsstelle, die beachtliche »Erfolge« zu verzeichnen hat. Während seiner Haft hatte Lynch möglicherweise die anderen Mitglieder der »Sekte« kennen gelernt. Vielleicht handelte es sich um einen seiner Zellengenossen – Shapiro und Hooper – oder aber auch um einen anderen Häftling, dessen Bekanntschaft er beim Hofgang oder beim Essen gemacht hatte; dann allerdings wäre das Durcheinander schwer zu entwirren.
Dieser Shapiro hingegen war eine Spur, die man nicht vernachlässigen durfte. Auch wenn er Lynch nicht selbst zum Töten angestiftet hatte, könnte er ihn vielleicht über die Persönlichkeit des Mörders aufklären.
Brolin sah auf die Uhr, es war fast sieben, etwas spät für einen Besuch, den würde er ihm lieber morgen bei der Arbeit abstatten. Außerdem fühlte er sich psychisch erschöpft durch all diese Verbrechen, diesen Wahnsinn.
Er schloss die Augen.
Siebenundsechzig Menschen.
Tod und Leid streiften umher.
Er sprang auf und vertrieb all die düsteren
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