In Blut geschrieben
sie wisse, was sie tue. Thayer fürchtete vor allem, die Informationen könnten über den Privatdetektiv an die Presse gelangen. Weiter hatte er nichts gesagt.
Annabel blinzelte und streckte sich. Barfuß lief sie über den kalten Parkettboden des Wohnzimmers und setzte Kaffeewasser auf. Als sie einigermaßen wach war, absolvierte sie ihre morgendlichen Übungen: Liegestützen, Sit-ups, Klimmzüge an der in der Badezimmertür angebrachten Stange. Anschließend stellte sie sich unter die wohlig warme Dusche.
Nach einem tragischen Ereignis können gewisse einfache Gesten von früher schmerzhaft werden. So fielen Annabel manche alltägliche Kleinigkeiten, wie etwa die Seife aus der Schale nehmen, schwer. Sie sah ihre Finger auf dem rosafarbenen Rechteck, und plötzlich legte sich eine breitere Hand auf die ihre. Bradys frische Haut schmiegte sich an ihren Rücken, und er fing ganz sanft an, sie zu waschen. Es war ein normaler Tag gewesen, kein Feiertag, nichts Besonderes. Ein Montagmorgen, daran erinnerte sich Annabel genau, Brady und sie hatten beide frei gehabt. Unerwartet war er in die Duschkabine getreten, und dieser Augenblick hatte sich – strahlend und verklärt wie alle schönen Erlebnisse – in ihr Gedächtnis eingraviert. Die am schwersten zu ertragenden und hartnäckigsten Phantome sind nicht, wie man oft vermutet, die außergewöhnlichen, sondern die vertrauten Gesten.
Mit einem raschen Blick in den Spiegel überprüfte Annabel ihre Zöpfe und schlüpfte in eine ausgewaschene Jeans. Es würde ein langer Tag werden, sie wollte unter anderem ins Krankenhaus gehen, sich nach Julia Claudio erkundigen und sich mit ihr unterhalten. Was Spencer Lynch betraf, so stand er unter Polizeiüberwachung, und die Sonderkommission würde informiert werden, sobald er aus dem Koma erwachte.
Wie eine Blüte, eingerahmt vom Kranz ihrer dunklen Haare, schob sich Annabels Gesicht aus dem Rollkragen ihres schwarzen Kaschmirpullovers hervor. Sie befestigte den Halfter am Gürtel und wollte gerade eine Kleinigkeit essen, als ihr Handy klingelte.
Es war Jack Thayer, seine Stimme klang gelassen, und er schien völlig wach, so dass Annabel sich fragte, ob er überhaupt geschlafen hatte.
»Ich stehe vor deinem Haus«, verkündete er, »komm schnell runter.«
Und noch ehe sie protestieren konnte, fügte er hinzu: »Ich erkläre es dir später, komm jetzt. Ich weiß, dass du ein Gewohnheitstier bist. Du stehst jeden Morgen um sechs Uhr auf, also sag mir nicht, du wärest nicht fertig. Ich warte.«
Damit beendete er das Gespräch.
Als sie in den Ford stieg, entdeckte Annabel eine Tüte von McDonald’s auf dem Armaturenbrett.
»Für dich«, erklärte Jack, während er anfuhr. »Orangensaft und Doughnuts, genau das, was du brauchst.«
Annabel ließ den Saft stehen und griff nach den Doughnuts.
»Danke, Papa«, sagte sie ironisch. »Dürfte ich – wenn das nicht zu viel verlangt ist – erfahren, was eigentlich los ist?«
Jack war frisch rasiert und duftete nach Aftershave. Er konzentrierte sich auf den Verkehr.
»Wir fahren nach Larchmont, County Westchester. Der Sheriff hat mich heute Morgen angerufen« – Jack warf einen schnellen Blick auf seine Uhr –, »vor etwa zwanzig Minuten. Sie haben heute Nacht eine Leiche gefunden, eine Frau. Mit Sicherheit Mord. Ein Lieferant hat sie entdeckt, ein junger Kerl, der bei seinen Eltern lebt. Er ist um Viertel vor fünf aufgestanden und hat seinen Hund Gassi geführt. Der hat dann im Schnee gescharrt, und plötzlich kam eine Hand zum Vorschein. Wie es scheint, kein schöner Anblick.«
Sofort setzte Annabels Fantasie ein, und Bilder, eines schrecklicher als das andere, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Sie erinnerte sich an einen grässlichen Fall, zu dem man sie vor einem Jahr gerufen hatte: Man hatte eine allein stehende Frau tot aufgefunden, ihr Gesicht war förmlich zerfetzt. Ihr eigener Hund hatte sie zerfleischt, und die Haut hing zu beiden Seiten des Schädels herunter. Bei der Polizei hatte Annabel gelernt, dass sich Haustiere gerne an der Leiche ihres Herrchens oder Frauchens gütlich tun. Vor allem Katzen warten nicht einmal ab, bis das Fleisch kalt geworden ist. Deshalb hatte Annabel nie einen Vierbeiner haben wollen. Das gehört zu den kleinen Berufsgeheimnissen, die man besser für sich behält – die Dinge des Lebens, die die Gesellschaft nicht akzeptieren will.
Thayer fuhr fort: »Die örtliche Polizei hat ihre Arbeit getan, der Coroner war da, und als sie die
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