In Blut geschrieben
zerbrechlich ist und nicht das geringste Selbstvertrauen hat. Das hat ihr Bruder sicherlich ausgenutzt und ihr ständig eingeredet, dass sie zu nichts nutze sei, dass aber zum Glück er da sei, um für sie zu sorgen. Er hat alles getan, um sich im Leben seiner Schwester unentbehrlich zu machen. Sie leben zusammen, obwohl sie schon um die dreißig sind, also konnte er, selbst als er im Gefängnis war, weiter Einfluss auf sie ausüben. Ich weiß eigentlich nichts Genaues, das sind reine Vermutungen. Doch viele Verbrecher-Duos funktionieren so.«
»Aber deshalb gleich töten? Das kommt mir trotzdem verrückt vor!«
»Mich wundert gar nichts mehr. Wollen Sie ein Beispiel? Paul Bernado und Karla Homolka in den 90er-Jahren. Sie heiraten, und Karla ist bereit, ihrem Mann die eigene kleine Schwester auszuliefern, damit er sie vergewaltigt. Karla selbst hat sie mit Drogen voll gepumpt und die Szene gefilmt; die Kleine ist daran gestorben. Das haben sie mit mehreren Opfern wiederholt, bis sie festgenommen und verurteilt wurden. Solche Geschichten gibt es massenweise. Massenweise …«
Nach einem kurzen Schweigen sagte Annabel mit sanfter, aber leicht bitterer Stimme: »Irgendetwas stimmt nicht mehr mit der Welt. Ich hab manchmal den Eindruck, es wird immer schlimmer.«
»Die Welt kann nichts dafür, die Schuldigen sind die Menschen.«
Sie wechselten einen verständnisvollen Blick. Die Polizisten werden täglich Zeugen des menschlichen Wahnsinns, und dabei sind sie schrecklich einsam. Diese beiden verstanden sich – und das tat gut.
Sie ließen noch eine halbe Stunde verstreichen, um sicher zu gehen, dass Janine Shapiro nichts vergessen hatte und nicht zurückkommen würde. Dann stieg Brolin aus und beugte sich zu seiner unerwarteten Verbündeten hinab.
»Es ist bald Mittag, Shapiro kommt oft zum Essen her. Da er durch ganz Manhattan und Brooklyn fahren muss, kann er vor dreizehn Uhr nicht da sein. Geben Sie mir um zehn vor ein Zeichen. Der Schlüssel steckt in der Zündung. Wenn es irgendein Problem gibt, fahren Sie einfach los. Sie kümmern sich nicht um mich, verstanden?«
Annabel nickte.
»Frequenz sieben«, sagte sie und wies auf das Walkie-Talkie, das aus Brolins Jackentasche schaute.
»Bis später.«
Er deutete ein freundschaftliches Lächeln an, das die junge Frau richtig verstand, und überquerte im Laufschritt die Straße.
Der Countdown lief.
27
Als sich Brolin dem von der Seite eher wuchtig wirkenden Haus näherte, hatte er bereits eine Strategie entwickelt. Er streifte seine Lederhandschuhe über, ließ aber den Kopfhörer bei dem Walkie-Talkie in der Tasche. Wegen des dichten Schneefalls war es zwar unwahrscheinlich, dass ihn jemand sehen könnte, doch es wäre töricht, durch ein belangloses Detail die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er ging an dem Haus vorbei zu dem mit einem beidseitigen Zaun abgetrennten Pfad, der sich durch das Brachland schlängelte. Nach etwa fünfzig Metern blieb er stehen. Der Verkehrslärm drang nur gedämpft zu ihm herüber, hier herrschte eine unheilvolle Ruhe, ein Mangel an Geräuschen und an Leben. Brolin überzeugte sich davon, dass er weder von der Straße noch vom Parkplatz des Supermarktes aus zu sehen war, und wandte sich dem Zaun zu seiner Rechten zu. Arm- und Beinmuskeln angespannt, zog er sich hoch. Er konnte den Zaun problemlos überwinden. Dann schlug er die umgekehrte Richtung ein. Beim Haus der Shapiros angelangt, kletterte er auf einen Stapel alter Kisten, um über das Gitter zu steigen. Es hätte ihn fünf Minuten und einige Anstrengungen weniger gekostet, über die Zufahrt zu gehen, die hinter das Haus führte, doch dann hätten ihn die Nachbarn sehen können – ein Problem für den Fall, dass später die Polizei eingreifen und man sich fragen würde, wer der Typ war, der sich am Vormittag dort herumgetrieben hatte.
Auf dem lang gestreckten Hinterhof lagen zahlreiche rote Plastikfässer und nicht eben Vertrauen erweckende Ketten und Haken. Brolin stellte sich die Schlagzeilen vor: »Metzgerhaken bei Mörder gefunden!« Am Ende des Hofes stand eine Garage neueren Datums mit einem Kühlsystem, das ohne Unterlass arbeitete. Die schwere Metalltür war mit einem Vorhängeschloss versehen. Ein Lächeln huschte über Brolins Gesicht. Mit Vorhängeschlössern kam er gut klar, sie zu knacken war eine seiner leichtesten Übungen. Er holte einen Dietrich aus der Innentasche seiner Jacke und öffnete es ohne Schwierigkeiten. Dann zog er die Tür einen Spaltbreit
Weitere Kostenlose Bücher