In Blut geschrieben
Haus war das letzte vor dem Brachland, das durch einen Zaun abgetrennt war. Ein schmaler Fußweg führte durch das Terrain zu einem Supermarkt auf der anderen Seite, der durch eine leichte Erhebung und ein paar verkrüppelte Bäume halb verdeckt war. Weit und breit keine Menschenseele. Das Gelände war mit Schrott und Gerümpel übersät, irgendwo rostete sogar ein alter Van vor sich hin. Brolin fragte sich gerade, auf welchem Weg er sich am besten Zugang zu dem Haus verschaffen könnte, als an sein Seitenfenster geklopft wurde. Er zuckte zusammen.
Ein vertrautes Gesicht neigte sich zu ihm herab.
Die Zöpfe unter einer Baseballkappe versteckt, sah ihn Annabel lächelnd an. Er öffnete die Fahrertür.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt! Was machen Sie hier?«
Er blickte sich um und fürchtete fast, Dutzende von Polizisten zu sehen, die gleich losstürmen würden, um Lucas Shapiro zu verhaften.
»Keine Sorge, ich bin solo hier. Ich konnte nicht schlafen bei der Vorstellung, Sie diesen Blödsinn …«
»Wir haben schon darüber gesprochen, ich bitte Sie nur …«
»… allein machen zu lassen. Ich begleite Sie.«
Brolin rang die Hände.
»Wie stellen Sie sich das vor? Sie setzen Ihren Job aufs Spiel. Nein, das ist meine Sache. Wenn da drinnen irgendetwas passiert und man Sie findet, dann …«
»Ich komme nicht mit rein; ich bleibe hier zum Aufpassen. Jetzt seien Sie still und hören mir mal gut zu. Ich habe über die ganze Sache nachgedacht – Sie haben Recht. Menschenleben zu retten, das ist die oberste Priorität. Also durchsuchen Sie das Haus, und wenn Sie das geringste Indiz gegen Shapiro finden, dann informieren Sie mich, aber rühren Sie nichts an. Gibt es keine Beweise, werde ich ihn auch nicht festnehmen und das Risiko eingehen, dass er gleich wieder freikommt, ohne uns von seinen Freunden erzählt zu haben. In diesem Fall werden wir ihn diskret überwachen lassen. Ich kann nicht wissen, ob es Indizien oder Beweise bei Shapiro gibt, solange wir uns nicht umgesehen haben … Was ich nicht auf legalem Wege machen kann, ohne dass Shapiro es erfährt. Sagen wir, dies ist ein Sonderfall, eine Ausnahmeregelung, die nur Sie und mich etwas angeht.«
Sie zwinkerte ihm zu.
»Steigen Sie ein, sonst sieht er uns noch.«
Annabel nahm auf dem Beifahrersitz Platz und öffnete ihre Handtasche.
»Meine Kollegen sind heute Morgen in der St. Edwards Church und verhören den Priester, den Sie gesehen haben. Hier, nehmen Sie das.«
Sie reichte ihm einen Kopfhörer und ein ansteckbares Mikro, die mit einem Walkie-Talkie verbunden waren.
»Ich habe sie im Revier ausgeliehen. So können wir in Kontakt bleiben.«
Diese Frau war wirklich clever, dachte Brolin bei sich. Er musste zugeben, dass er mit einer derartigen Wendung nicht gerechnet hatte. Allein die Tatsache, dass sie hier in diesem Auto vor Shapiros Haus saß, konnte sie teuer zu stehen kommen. Sie verfügte über wichtige Informationen, von denen sie ihre Kollegen nicht in Kenntnis gesetzt hatte.
Wenige Minuten später tauchte ein beigefarbener Lieferwagen – Shapiro am Steuer – aus der Zufahrt auf, die hinter das Haus führte. Als er in die Straße einbog, duckte sich Brolin und legte den Kopf auf Annabels Schenkel.
»Sorry«, entschuldigte sich der Privatdetektiv und richtete sich wieder auf, »aber er durfte mich auf keinen Fall sehen.«
»Kein Thema, hier ist wirklich Vorsicht geboten.«
»Bleibt noch Janine, seine Schwester. Ich habe mich erkundigt, sie arbeitet heute Morgen, doch ich weiß nicht, wann genau. Ein Cop muss eben Geduld haben …«
Annabel zog die Augenbrauen hoch.
Sie warteten noch knapp drei Stunden, bis Janine Shapiro endlich das Haus verließ. Eine winzige, zierliche Person mit Bubikopf und einem zwei Nummern zu großen Mantel. Auffallend langsam lief sie über den Gehweg, bevor sie in die Straße einbog, die zur U-Bahn führte.
»Warum sollte eine Frau so etwas machen?«, fragte Annabel. »Lucas Shapiro ist ein grausamer Vergewaltiger, aber seine Schwester? Was gewinnt sie dabei? Sie wird doch nicht ähnlich abartig veranlagt sein?«
»Bei Mördern, die als Duo operieren, gibt es fast immer einen Dominierenden und einen Dominierten. Es ist anzunehmen, dass Lucas Shapiro seine Schwester durch seine Körpergröße und seinen Charakter seit jeher beherrscht hat. Er hat sie in ihrer Kindheit sicher misshandelt, um sie gefügig zu machen. Vielleicht hat er sie sogar vergewaltigt. Allein an ihren Bewegungen sieht man, dass sie
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