In Blut geschrieben
Stock hinauf. Auch hier wieder ein abgetretener Teppichboden, die Wände aber waren mit lilafarbenem Stoff bezogen. Er wunderte sich, dass es wie unten keinerlei Wandschmuck gab – kein Bilderrahmen, kein Poster, und das bei jemandem, der über ein eigenes Fotolabor verfügte. Die erste Tür führte zu einem lang gestreckten Raum; das einzige Fenster war vergittert und mit mindestens zehn Jahre alten Aufklebern von Basketball-Stars übersät: Dominique Wilkins, Patrick Ewing, Karl Malone. Brolin sah sich rasch um. Schwer zu sagen, ob es sich um das Schlafzimmer von Lucas oder von Janine handelte. Keine Bücher, keine Zeitschriften, nur ein Bett, ein Schrank, dessen einer Fuß durch Backsteine ersetzt worden war, und eine kleine Kommode. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass das Bett nicht bezogen war, nur eine Decke lag auf der fleckigen Matratze.
Auch der Schrank war leer. Der Privatdetektiv klopfte erfolglos die Wände ab.
Dann verbrachte er fünf Minuten im Badezimmer, ohne etwas Besonderes zu entdecken – außer einer Spermien abtötenden Creme. Er fragte sich, wozu das gut sein könnte, denn es war fraglich, dass Shapiro seiner Schwester Umgang mit Männern gestattete. Er war sicherlich der einzige und konkurrenzlose »Mann in ihrem Leben«. Außer er hätte das Kräfteverhältnis zwischen den beiden völlig falsch eingeschätzt.
Brolin betrat das letzte und größte Zimmer auf der Etage. Auf einem Stuhl mehrere Männerhosen, darüber Wandregale mit zusammengefalteten Herren- und Damenkleidungsstücken. Gegenüber ein Doppelbett mit aufgeschlagenen Decken. Eigentlich das einzige benutzte Bett im ganzen Haus.
Brolin schüttelte den Kopf.
Sie schlafen zusammen.
Am Boden mehrere Socken, eine Strumpfhose und Damenschuhe.
Brolin zuckte zusammen, als er ein Knistern in seinem Kopfhörer vernahm und dann Annabels Stimme: »Viertel vor eins, es wird Zeit, beeilen Sie sich. Alles in Ordnung?«
»Ja, ich bin fast fertig«, flüsterte er.
Hinter der Tür entdeckte er einen Schreibtisch, auf dem mehrere Sammelmappen, einige Bücher und lose Zettel lagen. Er blätterte sie schnell durch. Sie betrafen alle den Einkauf von Rindfleisch, den Verkauf und die Auslieferung in der Gegend. Bücher zum Thema Handel und erfolgreiche Firmenführung. Unter einem Stapel Papieren fand Brolin einen dicken Terminkalender, dessen Schloss fast platzte, so viele Werbeprospekte und Klebezettel steckten darin. Er schlug ihn auf und begann bei der laufenden Woche.
»Brolin, kommen Sie raus, es ist zehn vor eins. Hören Sie mich?«
Der Privatdetektiv antwortete nicht, sondern blätterte weiter. Die vorhergehende Woche. Er beeilte sich. Dezember, dann November, Oktober.
»Brolin, Sie müssen verschwinden, Shapiro kann jeden Moment hier sein.«
Der Privatdetektiv reagierte auch dieses Mal nicht und legte den Planer zurück. Er brannte vor Lust, ihn mitzunehmen. Mit etwas Zeit würde er sicher wichtige Hinweise finden. Doch Shapiro war auf der Hut, also war Vorsicht angesagt.
Brolin fluchte innerlich und kniete sich hin, um unter dem Bett nachzusehen. Er sah eine Schuhschachtel und einen anderen flachen Gegenstand und zog beides in das fahle Licht des Zimmers: ein Kassettenrekorder. Er schüttelte die Schuhschachtel und öffnete sie. Durchnummerierte Kassetten von eins bis sechzehn. Er nahm die erste, schob sie in den Rekorder und drückte auf die Play-Taste.
Das Stöhnen einer Frau.
Es wurde lauter, unterbrochen von krampfartigem Keuchen, bis die Stimme erneut anschwoll und sich fast überschlug.
Vor Schmerzen.
Es waren die Klagelaute der Folter, die immer durchdringender wurden und plötzlich verstummten. Stille.
Nichts als das Knistern der schlechten Tonbandaufnahme.
Ein metallenes Klirren.
Dann eine von Tränen, Angst und vermutlich auch Blut erstickte Stimme, die zu brechen drohte: »Biiitte … Nein, nein, tun Sie es bitte nicht, oh nein, Erbarmen, nein, nein, nein …«
Ein Schrei, so schrill, dass er fast den kleinen Lautsprecher sprengte, die Fensterscheiben vibrieren ließ und im Treppenhaus und Erdgeschoss widerhallte. Dann Heulen, vermischt mit Schluchzen und Krämpfen. Brolin erhob sich, ohne das Band auszuschalten.
Warum bewahrst du das unter deinem Bett auf, Lucas? Ist das nicht zu gefährlich? Warum? Du bist doch sonst so vorsichtig.
Ein bitteres Lächeln umspielte den Mund des Privatdetektivs.
Um es jederzeit zur Hand zu haben, wenn du mit deiner Schwester im Bett liegst … So ist es doch, oder? Du
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